Anscheinsbeweis Zu Unrecht verurteilt

Panne Foto: Thomas Küppers

Wer auffährt, hat immer Schuld? Stimmt nicht. Denn der seit Jahren
geltende Anscheinsbeweis hat Schwächen. So wehren Sie sich erfolgreich.

Auffahrschäden gehören zu den häufigsten Unfallsituationen in Deutschland. Dabei gehen Behörden, Versicherungen und Gerichte in der Regel davon aus, dass der Auffahrende die Schuld trägt. Begründet wird dieses Vorgehen mit dem Anscheinsbeweis. Dieser funktioniert nach dem Motto: Wer nicht ausreichend aufpasst, ist in der Regel schuld.

Anscheinsbeweis wird oft ohne Prüfung anerkannt

Doch der seit Jahren geltende Anscheinsbeweis hat auch seine Schwächen. "Leider wird der Anscheinsbeweis in der gerichtlichen Praxis schablonenhaft ohne kritische Überprüfung angewandt", kritisiert Rechtsanwältin Verena Bouwmann,  Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Verkehrsrecht im Deutschen Anwaltverein (DAV). Auch wenn ein Unfallhergang nur mühsam aufgeklärt werden könne, dürfe der Anscheinsbeweis nicht als Allheilmittel gelten. "Es besteht sonst die Gefahr, dass die Gerechtigkeit im Einzelfall auf der Strecke bleibt", sagt Bouwmann.

Einzelfälle müssen genau betrachtet werden

Etwa weil der Vorausfahrende aufgrund eines Tieres auf der Fahrbahn gebremst hat. Hier muss auf jeden Fall differenziert werden. So sind Vollbremsungen bei Kleintieren auf der Fahrbahn nicht zulässig – dieser Sachverhalt würde den Anscheinsbeweis entkräften. Anders liegt der Fall bei größeren Tieren. In solchen Fällen muss der Fahrer stark bremsen, damit entlastet der Anscheinsbeweis den Fahrer – und dem Auffahrenden wird die Schuld zugesprochen. Das ist ebenfalls dann der Fall, wenn bei Kleintieren abgebremst wird, aber der Fahrer aufgrund eines ausreichenden Sicherheitsabstandes ausschließen konnte, dass nachfolgende Fahrzeuge gefährdet sind. Kommt es in solch einem Fall dennoch zu einem Auffahrunfall, vermuten die Richter, dass der Fahrer des nachfolgenden Autos entweder zu schnell war oder nicht aufgepasst hat.

Bei unbegründeter Vollbremsung muss man nicht zwangsläufig zahlen

Daher sollten sich Autofahrer wehren, wenn sie an einem typischen Unfall die volle Schuld bekommen sollen, der tatsächliche Ablauf in diesem Fall aber ganz anders war. So gilt bei einer vollkommen unbegründeten Vollbremsung oder einem abrupten, nicht angezeigten Spurwechsel möglicherweise eine ganz andere Haftung. Das sehen wohl auch die Goslarer Experten so und haben den Richtern einen deutlichen Wink mit auf den Weg ihrer künftigen Urteile gegeben: Laut Empfehlung des Goslaer Verkehrsgerichtstags sollten die Behörden künftig alle Umstände des Falls berücksichtigen und ­alle Aufklärungsmöglichkeiten ausschöpfen.

Vor allem bei Massenunfällen mit mehr als 50 Fahrzeugen regulieren die betroffenen Versicherungen gemeinschaftlich nach dem Anscheinsbeweis. Das ist der einfachste Weg, schließlich kann man bei Nebel oder Glatteis hinterher oft nicht mehr aufklären, wer wann warum mit wem zusammengestoßen ist. In solchen Fällen übernehmen sie Heckschäden zu 100 Prozent, Frontschäden zu 25 Prozent. Ist beides kaputt, übernehmen die Versicherungen zwei Drittel der Kosten. Darüber hinaus bleibt den Unfallbeteiligten ihr Schadenfreiheitsrabatt erhalten.

Der Anscheinsbeweis beruht auf der Lebenserfahrung

Allerdings gibt es auch solche unklaren Massenunfälle mit weniger als 50 Fahrzeugen. In diesen Fällen begrüßen die Experten den Vorstoß der Versicherer, künftig die freiwillige Regulierungspraxis anzuwenden. Weiterhin gilt: Niemand muss mitmachen. Jeder kann auch versuchen seinen persönlichen Schadenersatz zu erhalten.

Um für mehr Haftungssicherheit im Straßenverkehr zu sorgen, hat die Rechtsprechung den sogenannten Anscheinsbeweis entwickelt. Demnach hilft bei typischen Ereignissen die allgemeine Lebenserfahrung. "Ihr zufolge wird ein Auffahrunfall üblicherweise durch Fehler oder Unachtsamkeit des Auffahrenden verursacht", sagt Schadenexperte Ulrich Staab von der R+V Versicherung. Ohne dieses Hilfsmittel müsste der Geschädigte nachweisen, dass der Auffahrende abgelenkt war oder zu schnell gefahren ist, was sich als sehr schwierig darstellt. Der Anscheinsbeweis gilt auch, wenn der Fahrer alkoholisiert oder nicht angeschnallt war oder er auf dem Motorrad keinen Helm trug. Die Erfahrung spricht dann dafür, dass der Betrunkene Schuld ist und der Verletzte Abzüge hinnehmen muss, weil er für seinen Schaden teilweise selbst verantwortlich ist.