Christian Koch/Dekra Dem Reifen auf der Spur

Foto: Götz Mannchen

Christian Koch, Leiter des Dekra Reifenlabors, über folgenschwere Reifenplatzer, wie Sie beim Kauf bereits Risiken ausschließen und die zukünftige Vernetzung zwischen Reifen und Auto.

FIRMENAUTO: Herr Koch, Sie sind seit eineinhalb Jahren Leiter des Dekra Reifenlabors in München und seit mehreren Jahren Gutachter für Verkehrsunfälle. Da sind Ihnen bestimmt schon einige kaputte Reifen vorgelegt worden. Welcher ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Koch: Das sind insbesondere Reifen von schweren Lkw. Wenn Lastwagen Unfälle verursachen, dann kracht es meistens richtig. Die Kräfte, die wirken, wenn ein Reifen platzt und der Lkw auf einer Achse schlagartig absinkt, sind enorm. Der Lkw schert dann unkontrolliert nach links oder rechts aus und durchbricht Leitplanken. Das kann kein Fahrer mehr durch Gegenlenken verhindern. Durch die Masse des Lkw kommen dementsprechend auch andere Verkehrsteilnehmer zu Schaden. Die Bilder aus der Polizeiakte vergisst man nicht so schnell. Bei einem Pkw kann das aber natürlich auch passieren.

Für wen erstellen Sie die Gutachten?

Meistens beauftragen uns Gerichte oder die Polizei, die den Sachverhalt bei einem Unfall klären wollen. Beispielsweise, ob die Behauptung des Fahrers stimmt, dass er aufgrund eines Reifenplatzers das Lenkrad verrissen hatte, oder ob es sich nur um eine Schutzbehauptung handelt.

Gab es Fälle, bei denen Sie auch mal passen mussten?

Selbstverständlich! Wir bekommen in der Regel nur die komplizierten Fälle, die unsere Unfallanalytiker in den Dekra Niederlassungen nicht selbst klären konnten. Davon können wir ungefähr 80 Prozent aufklären. Bei jedem fünften Reifen ist es jedoch am Ende nicht ganz eindeutig, ob dieser für den Unfall verantwortlich ist. Die Reifen sind dann einfach so stark zerstört, dass kaum noch etwas zu erkennen ist. Bei Zivilprozessen kommt es auch vor, dass wir die Reifen erst Monate oder sogar Jahre später zu Gesicht bekommen. Dann fehlen uns einfach Anknüpfungspunkte, die sich nachträglich auch nicht rekonstruieren lassen.

Wie gehen Sie vor, wenn Ihnen ein Reifen vorliegt?

Als Erstes schauen wir uns den Reifen ganz genau an. Bei der Sichtprüfung fallen meist schon wichtige Details auf. Ein weiterer Schritt ist das Röntgen. Hier erkennen wir Schäden an den Verstärkungsmaterialien. Sollte das immer noch nicht zur Ursache führen, sezieren wir den Reifen, das heißt wir zerlegen ihn Schicht für Schicht. Die einzelnen Bauteile werden dann mikroskopisch untersucht. Jeder Fall ist aber individuell. Wir gehen auch teilweise im Ausschlussverfahren vor und entscheiden von Fall zu Fall, was der nächste Schritt ist.

Klingt nach viel Arbeit. Wie lange brauchen Sie, um einen Reifen vollständig zu untersuchen?

Eineinhalb bis zweieinhalb Tage dauert es schon, bis wir einen einzelnen Reifen komplett untersucht und das Gutachten erstellt haben.

Wie häufig ist ein defekter Reifen die Unfallursache?

Das ist sehr schwer zu sagen, die Statistiken sind mit Vorsicht zu genießen. Oft wird ein Unfall vorschnell auf das mangelnde fahrerische Können zurückgeführt und die schlechte Bereifung nicht berücksichtigt. Da heißt es dann: "Der Fahrer war zu schnell unterwegs" oder " ... ist unter Alkoholeinfluss gefahren". Dem Reifen wird unserer Erfahrung nach zu wenig Beachtung geschenkt. Grob geschätzt kann man aber sagen, dass von allen Unfällen durch technische Defekte die Hälfte auf beschädigte Reifen zurückzuführen ist.

Was sind die häufigsten Ursachen für einen Reifenschaden?

Wenn sich Autofahrer einen Fremdkörper, z. B. einen Nagel oder eine Schraube, einfahren und es gar nicht bemerken.

Irgendwann löst sich der Fremdkörper dann wieder aus dem Gummi und der Reifen verliert schlagartig seinen Luftdruck. Leichte Nutzfahrzeuge werden häufig überladen. Da zählt dann nicht das zulässige Gesamtgewicht, sondern das Ladevolumen. Es wird eingeladen, was nur geht, der Reifendruck wird aber nicht an die Belastung angepasst, weil beispielsweise der Federungskomfort im unbeladenen Zustand dann wieder zu hart ist. Es kommt auch durchaus vor, dass der Reifen schon bei der Montage beschädigt wird. Das merkt man aber in der Regel schon nach wenigen Kilometern.

Welche Rolle spielt die Profiltiefe?

Messdaten zeigen, dass sich der Bremsweg mit abnehmender Profiltiefe verlängert. Die gesetzliche Mindestprofiltiefe von 1,6 Millimetern stellt hier aus Sicherheitsaspekten bestimmt nicht die beste Wahl dar. Wir als Prüforganisation empfehlen deshalb für Winterreifen eine Profitiefe von mindestens vier, bei Sommerreifen von mindestens drei Millimetern.

Kann ich schon beim Reifenkauf Fehler machen?

Ja, wenn Sie beispielsweise nur darauf achten, einen Reifen mit geringem Rollwiderstand zu bekommen, um Kraftstoffkosten zu sparen. An oberster Stelle sollte das Nassbremsverhalten stehen. Davon hängt Ihre Sicherheit entscheidend ab. Der Zielkonflikt zwischen Rollwiderstand und Nassbremsverhalten wird auf dem Reifenlabel sehr gut abgebildet. Wenn ich in beiden Bereichen mindestens ein B habe, dann habe ich schon einen sehr guten Reifen vor mir. Aber wie gesagt, Sie sollten dem Nassbremsverhalten Priorität einräumen.

Was ist mit den anderen Werten?

Wenn ein Reifen bei Nässe gut bremst, dann ist er in der Regel auch im Handling, beim Aquaplaning und auch auf trockenen Straßen nicht schlecht.

Wo gibt es bei Reifen noch Verbesserungspotenzial?

Eine Revolution wie die Erfindung des Radial-Stahlgürtelreifens wird sich wahrscheinlich nicht mehr wiederholen. Die Materialentwicklung bleibt aber sicherlich nicht stehen. Ich gehe davon aus, dass der Reifen der Zukunft stärker mit dem Fahrzeug vernetzt sein wird und künftig mehr Informationen, beispielsweise über Fülldruck, Belastung und Fahrbahnoberfläche direkt ins Cockpit liefert.

Über Christian Koch

Christian Koch (47) ist seit November 2011 Leiter des Dekra Reifenlabors in München und erstellt in dieser Funktion Gutachten für Justizbehörden, berät aber auch Fuhrparks und Industrieunternehmen in Reifenfragen. Der Ingenieur ist ausgebildeter Sachverständiger für Unfallrekonstruktion. Neun Jahre lang war er in den Bereichen Forschung und Entwicklung sowie im Kundendienst eines großen Reifenherstellers tätig.