eCall Was der automatische Notruf wirklich bringt

Comand Foto: Mercedes

Das Gesetzespaket zum automatischen Notruf "eCall" für neue Fahrzeuge ist durch. Doch in den deutschen Rettungsleitstellen wird der Nutzen des Systems infrage gestellt. 

An einem von Georg Santls fünf Bildschirmen blinkt es rot auf. "Ein Rauchmelder-Alarm", sagt der Leiter der Integrierten Leitstelle Ortenau, "mein Kollege nimmt gerade an." In die Tabellen und Zeichen auf den Monitoren kommt Bewegung: Es flackert, Schriftfarben ändern sich, eine Straßenkarte klappt auf, neue Zeichen erscheinen.
"Im Moment ist es ruhig", sagt Santl. Gerade eben hat er zehn neue Monitore ausgepackt. Tunnelüberwachung im Schwarzwald. So richtig weiß Santl nicht, wohin damit. An den Arbeitsplätzen der Disponenten ist kein Fingerbreit mehr Platz. Außerdem muss noch die neue TR-Technik implementiert werden. Sie übermittelt den ungefähren Standort des Anrufers. Dass ihm diese Technik etwas nutzen wird, bezweifelt Santl.

Bei den meisten eCalls handelt es sich nicht um echte Notfälle

Aber das dicke Ende kommt erst noch: Nachdem das EU-Parlament den europaweiten automatischen Notruf eCall verabschiedet hat müssen ab April 2018 alle neuen Pkw und leichten Nutzfahrzeuge mit einer kleinen Box ausgestattet sein, die bei einem Unfall über Mobilfunk selbständig die nächste Rettungsleitstelle alarmiert. Sobald ein Airbag auslöst, übermittelt eCall Uhrzeit, Fahrzeugklasse, Art des Treibstoffs und die exakten GPS- Koordinaten des Unfallwagens sowie die Fahrtrichtung an die "112". Außerdem stellt das System eine Sprachverbindung her. Der Notruf kann aber auch manuell ausgelöst werden.

"Die Idee ist sicher gut gemeint", sagt Santl. "Aber leider nicht zu Ende gedacht." Er ärgert sich: "Die, die das jetzt durchwinken, haben ja auch nicht die Last des Operationellen zu tragen." Santl befürchtet, dass es sich bei den meisten eCalls nicht um einen Notfall handeln wird. "Wir sind doch keine Vermittlungsstelle für den ADAC."

EU-Kommission: Es zählt jede einzelne Minute

Mit dieser Sichtweise steht Santl nicht alleine da. Die französische Regierung geht davon aus, dass 95 Prozent der eCalls Fehlalarme sein werden. Bis zuletzt hatte sie sich dafür eingesetzt, dass der europaweite Notruf nicht über die öffentliche Leitstellenstruktur, sondern über Drittanbieter abgewickelt wird. So wie es schon jetzt bei den meisten herstellerbasierten eCall-Systemen üblich ist: Der Anruf geht zunächst an ein Service-Center, das nur die "echten" Alarme an eine Rettungsleitstelle weiterleitet.
Doch darauf wollte sich die EU-Kommission nicht einlassen. Für sie "zählt jede einzelne Minute" nach einem Unfall. In der Praxis ist es für den Disponenten allerdings eher eine Sache von Sekunden, um zu entscheiden, ob Rettungskräfte nötig sind. Um die Zustimmung des Ministerrats zum eCall-Paket zu bekommen, sieht das endgültige Gesetz nun vor, dass auch der herstellerbasierte Notruf im Auto eingebaut sein darf. Sprich: der Kunde kann zwischen dem automatischen Basis-Notruf, der nur die wichtigsten Daten überträgt, und dem herstellerbasierten eCall, der meist qualifiziertere Informationen zum Unfall liefert, wählen.

Zusätzliche Arbeit, hohe Kosten – und vermutlich nur wenig Nutzen

Der gesetzliche Notruf geht in jedem Fall an die 112. "Jetzt nehmen wir mal den Fall an", sagt Santl, "wir haben einen gesicherten Unfall. Der Airbag hat ausgelöst. Jetzt wissen wir aber immer noch nicht. Ist das Fahrzeug voll besetzt oder ist der Fahrer alleine? Ist er gegen einen Baum gefahren oder gegen ein anderes Auto? Das sind alles nur so halbherzige Informationen, die übermittelt werden." Aus diesem Grund ist der erfahrene Disponent der Meinung, dass es wirklich manchmal besser sei, es würde noch eine Minute gewartet, bis jemand anruft und sagt: zwei Pkw, sieben Insassen, zwei Personen eingeklemmt. "Da weiß ich gleich, was man braucht."

Zwar wird auch über eCall ein Sprachkontakt zwischen Leitstelle und Unfall-fahrzeug hergestellt, aber nicht immer kommt auch ein Gespräch zustande. In der Regel werden die Insassen nach einem Unfall nicht sitzen, sondern das Fahrzeug verlassen. Santl: "Kommt kein Sprachkontakt zustande, muss ich trotz-dem jemanden hinschicken." Und wenn es ganz dicke kommt, malt Santl sich aus, "habe ich irgendwo im Kreis einen Herzinfarkt und alle Rettungswagen sind unnötigerweise im Einsatz."

Das Notruf-Projekt wurde von der EU nicht zu Ende gedacht

Santl rechnet schon jetzt mit einem Mehraufwand: "Welche Erkenntnis macht uns denn wirklich schneller?", fragt er. Die EU-Kommission geht von 2.500 Menschenleben pro Jahr aus, die eCall retten wird. Ihren Schätzungen zufolge sollen die Rettungskräfte in der Stadt um 40 Prozent, auf dem Land um 50 Prozent schneller vor Ort sein.

Die Technik hat aber ihren Preis: Allein in Deutschland müssen rund 260 Leitstellen mit der eCall-Technik ausgerüstet werden. Die Kosten schätzt das Bundesinnenministerium auf 30.000 Euro pro Leitstelle. Kosten für die Schulungen, zusätzliche Stellen oder Fehleinsätze kann niemand beziffern. "Nicht zu Ende gedacht", nennt Santl das eCall-Projekt. Dass es zu Fehlalarmen kommen wird, ist auch den Herstellern klar. "Wir haben bewusst auf eine manuelle Auslösung des Notrufs verzichtet, um Fehlalarme zu minimieren", sagt Isfried Hennen, Pressesprecher von Ford.

Ob aber der Fahrer in Stresssituationen unterscheiden kann zwischen "Ich brauche einen Notarzt" und "Ich stehe quer auf der Autobahn und jemand muss mich abschleppen"? "Das Aussortieren der Anrufe", prophezeit Santl, "wird bei uns stattfinden. Wo auch sonst, denn hier werden die Anrufe landen."

"Es gab auf EU-Ebene einmal die Idee, dass die Automobilindustrie einen eigenen eCall anbietet, der die Anrufe vorfiltert", sagt Jörg Tegtmeier, eCall-Experte bei Bosch. Der Technikkonzern hat den automatischen Notruf-Service für Mercedes-Benz entwickelt und nimmt die Notrufe auch im eigenen Haus entgegen. "Aber die wurde dann wieder verworfen." Deutschland sei wegen seiner kommunalen Strukturen besonders betroffen: "Hier muss in fast jedem Kreis die Leitstelle aufgerüstet werden. In Frankreich oder Tschechien gibt es zentrale Sammelstellen für Notrufe", sagt Tegtmeier.

Jede Kommune ist selbst verantwortlich für die Zahl der Einsatzkräfte

Auch hier gab es entsprechende Überlegungen. Das aber hat die Expertengruppe abgelehnt: Ziel der eCall-Einführung sei es, die Rettungskette zu verkürzen und nicht zu verlängern, so die Begründung. Für die Rettungsleitstellen heißt das: "Noch mehr Technik. Wir sind jetzt schon im Bereich der Unübersichtlichkeit", sagt Santl. "Ich stelle mir nur vor, es rauschen fünf Autos bei mäßiger Geschwindigkeit zusammen. Die legen uns lahm. Wir sind ab 17 Uhr zu zweit, und das für 500.000 Einwohner."

Was die Disponenten tun sollen, wenn kein Sprachkontakt zustande kommt, hat niemand festgelegt. "Jede Kommune ist selbst verantwortlich für die Größenordnung, die dann losgeschickt wird", sagt Jens Schur von der Feuerwehr Braunschweig. "Und das wird nicht überall gleich sein. Wir werden mit Sicherheit eine etwas niedrigere Schwelle ansetzen, weil wir mit der Berufsfeuerwehr die Kräfte sowieso jeden Tag vor Ort haben. Aber im ländlichen Raum entscheidet man sich möglicherweise für eine andere Variante. Dort schickt man vielleicht erst nur die Polizei zum Gucken."