In den USA hat Daimler den ersten selbstfahrenden Lkw auf öffentliche Straßen geschickt. Der Freightliner Cascadia kurvt autonom durch Nevada.
Ein bisschen nervös war Mark Alvick schon, als er zum ersten Mal die Hände vom Lenker genommen hat. Auch wenn er für die Daimler-Tochter Freightliner jetzt schon fast ein Jahr am autonomen Lastwagen arbeitet, hat es ihn anfangs doch Überwindung gekostet, dem Autopiloten plötzlich das Kommando über den 30-Tonnen-Giganten zu überlassen. „Das ist ein Gefühl wie damals, als du Radfahren gelernt hast, dein Vater die Stützräder abmontiert und dir einen kräftigen Schubs gegeben hat“, lacht der Ingenieur.
Doch mittlerweile weiß Alvick, dass er sich auf die Elektronik verlassen kann, die mit Abstandsradar und Stereokamera die 250 Meter vor dem Bug seines Lasters scannt und daraus die Steuerbefehle für Lenkung, Gas und Bremse ableitet. Alvick ist einer der ersten Fahrer, die einen so genannten Highway-Piloten auf öffentlichen Straßen testen dürfen: Seit dieser Woche prangt am Bug des seines „Inspiration-Trucks“ ein offizielles Kennzeichen des US-Staates Nevada und macht den futuristischen Koloss auf Basis des US-Marktführers Cascadia so zum weltweit ersten autonomen Lkw mit Straßenzulassung. Kein Wunder, dass Konzernmutter Daimler diese Premiere groß gefeiert und dafür sogar den berühmten Hoover Damm bei Las Vegas als Bühne gebucht hat.
Doch Alvick hat das aus Stuttgart organisierte Spektakel mit einer der wegen ihrer Lichtstärke vom Guinness-Buch bereits als Weltrekord gewürdigten Projektion auf der riesigen Staumauer schon abgehakt. Nur Stunden nach der Party mit vollmundigen Reden von Truckvorstand Wolfgang Bernhard und Freightliner-Chef Martin Daum, mit reichlich Pathos und der womöglich größten US-Flagge aller Zeiten, sitzt er wieder in seinem weißen Ledersessel zwei Meter über der Straße und lenkt den Inspiration-Truck auf die Interstate I-15 aus der Spielermetropole heraus. Während der 14,8 Liter große Sechszylinder den im Windkanal glatt geschliffenen Koloss mit 505 PS und mehr als 2.000 Nm die Rampe hinauf wuchtet, schaut Alvick gespannt auf das digitale Display hinter dem riesigen Lenkrad und wartet nur auf die entscheidende Meldung: „Highway-Pilot Availabe“. Denn kaum ist der Truck auf einer Fernstraße und erkennt die Fahrbahn-Markierung, bietet er die Übernahme an. Dann braucht es nur noch einen Knopfdruck, dann fühlt Alvick wieder den Schups seines Vaters, rollt auf dem Rad ohne Stützräder und wird vom Fahrer zum Passagier.
Zwar ist das auf den meist schnurgeraden Highways in den USA weniger spektakulär als auf einer kurvigen Autobahn rund um Stuttgart. Außerdem ist der Verkehr in Nevada lange nicht so dicht, das Tempo des Trucks ist für den Testbetrieb auf knapp 90 km/h limitiert und sobald Alvick vom Highway runter fährt, gibt Kollege Computer das Kommando wieder zurück. Doch wirkt das System dafür schon so selbstverständlich und souverän, dass man kaum glauben mag, weshalb Entwicklungschef Sven Ennerst bis zur Serienreife noch ein Jahrzehnt erbittet – selbst wenn viel von dieser Zeit eher für die Lobbyarbeit und die Juristerei als für die Technik benötigt wird. Denn es ist vor allem der gesetzliche Rahmen, der den Entwicklern Sorgen bereitet.
Alvick kann über solche Sorgen nur lachen. Sein Truck hat schließlich den Segen der Behörden. Deshalb könnte er stundenlang weiterfahren und endlich auch während der Fahrt all die Dinge tun, für die er bislang immer anhalten musste: Telefonieren, E-Mails checken, neue Frachtaufträge annehmen, Routen planen, Lieferzeiten absprechen oder die Buchhaltung machen – eben noch Trucker, wird Alvick so zum Transport-Manager und übernimmt wichtige Aufgaben der Disposition.
Aber es geht Daimler bei der Arbeit am autonomen Truck nicht allein um die Rationalisierung und schon gar nicht um die Abschaffung des Fahrers. „Denn am Ende ist der Mensch einfach intelligenter und besser als der teuerste Computer“, sagt Freightliner-Chef Daum und spricht den Truckern damit eine langfristige Arbeitsplatz-Garantie aus. Es geht den Entwicklern vor allem um Effizienz und Sicherheit. Die Effizienz steigt, weil ein autonomer Truck im Schnitt fünf Prozent weniger Sprit verbraucht und seltener in die Werkstatt muss. Und die Sicherheit wird besser, weil ein Trucker aufmerksamer und leistungsfähiger bleibt, wenn er die Monotonie der Langstrecke mit interessanten Nebentätigkeiten durchbrechen kann. „Wenn er eingreifen muss, dann ist er deshalb ausgeruht und voll da“, sagt Entwicklungsvorstand Ennerst und meint damit nicht nur Notfälle oder Extremsituationen. Sondern auch mit dem Highway-Piloten ist der Fahrer nicht arbeitslos und muss zum Beispiel anders als bei den autonomen Pkw-Prototypen eigenhändig überholen oder die Spur wechseln. Denn weil das im Lkw-Alltag ein eher seltenes Szenario ist, haben die Entwickler die dafür nötigen Sensoren zur Seite und nach hinten kurzerhand weg gelassen und sich nur auf den Blick nach vorne konzentriert.
Und wenn die Ausfahrt naht, ist es mit dem Autopiloten ohnehin wieder vorbei. Fünf Sekunden lang zählt der Countdown auf dem Digitaldisplay herunter, dann muss Alvick wieder ins Steuern greifen, wenn er nicht auf Schritttempo herunter gebremst und danach gestoppt werden will. Spätestens dann profitieren auch alle anderen Verkehrsteilnehmer vom Highway-Piloten. „Denn wenn ich einen 40-Tonner im Nacken habe, bin ich auch im Pkw ganz froh, wenn dessen Fahrer ausgeruht und aufmerksam ist“, sagt Ennerst.
Für die Trucker selbst ist das allerdings ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite gewinnen sie an Freiheit und Freizeit. Aber auf der anderen Seite kratzt der Highway-Pilot am Selbstverständnis einer Berufsgruppe, die sich weltweit als Könige der Straße fühlt und in Amerika sogar in der Tradition der Cowboys sieht. Doch Testfahrer Alvick hat keine Sorge um die Akzeptanz und erinnert sich dabei wieder an seine Kindheit auf dem Fahrrad: „Wer will schon wieder Stützräder, wenn er einmal ohne gefahren ist?“