Dekra-Chef Kölbl zum automatisierten Fahren Wir stehen an einer Zeitwende

Interview Stefan Kölbl Foto: Karl-Heinz Augustin

Dekra-Vorstandschef Stefan Kölbl sieht im automatisierten Fahren große Chancen, warnt aber gleichzeitig vor Cyber-Angriffen.

Herr Kölbl, Dekra wird 2025 100 Jahre alt. Ihr Anspruch ist es, dann der globale Partner für eine sichere Welt zu sein. Wie weit sind Sie bisher gekommen?

Dekra sorgt mit mehr als 44.000 Experten für Sicherheit in den drei Lebensbereichen Verkehr, Arbeit und Zuhause. Unsere Vision dabei ist, der globale Partner für eine sichere Welt zu sein. Bis zum Zieljahr 2025 ist es noch eine mehrjährige Weltreise. Wir sind aber schon ein gutes Stück vorangekommen.

Welches sind die Haupttreiber für die hohe Nachfrage nach Dienstleistungen rund ums Thema Sicherheit?

Einer der Haupttreiber ist die Digitalisierung. Entsprechend haben wir uns vorbereitet und 2017 rund 150 Millionen Euro investiert. Das Highlight dabei war der Kauf des Lausitzrings. Auf dem riesigen Gelände, das eine Fläche von mehr als 700 Fußballfeldern umfasst, prüfen wir automatisierte und vernetzte Mobilität der Zukunft. Uns alle dazu erforderlichen Fähigkeiten anzueignen, auch auf dem Gebiet der Cyber-Sicherheit, steht auf unserer Prioritätenliste ganz oben.

Sehen Vertreter aus Politik und Behörden denn eine Notwendigkeit, dass vernetzte Systeme auf ihre Funktionsfähigkeit hin überprüft werden müssen?

Wir stehen mit der Digitalisierung und den damit verbundenen Vor- und Nachteilen an einer Zeitenwende und spüren vor diesem Hintergrund an allen Stellen ein wachsendes Verständnis. Politische Entscheider sehen, dass sich die Mobilität durch automatisierte und vernetzte Fahrzeuge verändert, und erkennen an, dass es Instanzen geben muss, die diese Produkte unabhängig testen, prüfen und zertifizieren. Trotzdem ist das Ganze kein Selbstläufer. Die Notwendigkeit, diese vernetzten Systeme über den gesamten Lebenszyklus hinweg auf ihre sichere Funktionsfähigkeit zu überprüfen, artikulieren wir sowohl bei der deutschen Politik als auch bei den Verordnungsgebern auf europäischer und internationaler Ebene. Vieles ist schon in Gang gekommen. Es wird aber noch Zeit brauchen, bis das Ganze in jeweilige nationale Gesetze mündet. Unsere Überzeugung lautet: Wir brauchen für jedes vernetzte Gerät und für Komponenten wie Assistenzsysteme in Fahrzeugen ein klares Regelwerk und eine entsprechende Überprüfung und Zertifizierung

Lesen Sie auch  Dekra Verkehrssicherheitsreport 2018 So sicher ist automatisiertes Fahren Das klingt nach einem unwahrscheinlich hohen Aufwand. Wird das nicht die Entwicklung lähmen und eine mögliche Markteinführung neuer Systeme verzögern?

Meine klare Überzeugung ist: Gründlichkeit vor Schnelligkeit. Assistenzsysteme haben unbestreitbar das Potenzial für große Sicherheitsgewinne. Doch zum einen will die Technik beherrscht werden. Zum anderen – und das ist unsere vornehmliche Aufgabe – müssen wir dafür sorgen, dass sie in ihrer Anwendung sicher ist. Bis vor wenigen Jahren waren nur 2 Prozent der Rückrufe in der Fahrzeugindustrie softwarebedingt, heute sind es nach einer aktuellen Erhebung 89 Prozent. Das zeigt die Notwendigkeit, dass wir die verbaute Elektronik und ihr Verhalten laufend überprüfen müssen. Da reicht es nicht, alle zwei Jahre im Rahmen der Hauptuntersuchung den Stand der Technik zu prüfen. Wir denken an eine HU 4.0.

Könnten Sie dann gleichzeitig permanent prüfen, wie es um den Schutz dieser Systeme vor Cyber-Attacken bestellt ist?

Das wäre ein Ziel. Wir haben in Deutschland nicht umsonst einen so hohen Standard, weil wir immer großen Wert auf das lebenswichtige Thema Sicherheit gelegt haben. Wir müssen nun akzeptieren, dass sich durch die neue Welt vieles dramatisch gewandelt hat – leider auch die Gefahr durch Cyber-Angriffe. Das Bedrohungspotenzial ist riesig. Früher mussten Hacker nah am Fahrzeug sein, um zum Beispiel über Bluetooth zu manipulieren. Inzwischen kann ein Übeltäter auch aus der Ferne Zugriff nehmen. Wird ein Lkw einer Spedition gehackt, können wir nicht ausschließen, dass dadurch die gesamte Flotte stillgelegt wird. Wie beim Angriff auf das IT-System können Flottenbetreiber in diesem Szenario künftig dann mit Lösegeldthemen konfrontiert sein.

Ist das nicht arg konstruiert?

Die Bedrohungen sind real. Daher müssen wir alle daran arbeiten, die komplexen Systeme abzuschotten und zu schützen. Das ist sehr anspruchsvoll. Und dazu – jetzt sind wir wieder bei unserer Kernforderung – muss man eine unabhängige Prüfung dieser Systeme zulassen.

Dabei müssen aber auch die Fahrzeughersteller und Zulieferer mitspielen. Nicht alle sind bereit, Dritten Zugriff auf ihre Daten zu geben. Gibt es inzwischen Zeichen für eine Annäherung mit ihnen?

Die gibt es. Hersteller und Zulieferer haben erkannt, dass sie die Daten nicht exklusiv verwenden können. Primär ist der Fahrzeugeigner Eigentümer der Daten, das wird anerkannt. Fakt ist, dass eine unabhängige Prüfung nur erfolgreich sein kann, wenn Hersteller und Zulieferer den Prüfern anlassbezogen Zugriff auf alle sicherheits- und umweltrelevanten Systeme gewähren. Das ließe sich zum Beispiel über Cloudlösungen realisieren. Alle anderen Fahrzeugdaten interessieren uns nicht. Wir sind Prüfer der Systeme und wollen kein Geschäft mit diesen Daten machen, sondern unseren Auftrag erfüllen, für Sicherheit zu sorgen.

Interview Stefan Kölbl Foto: Karl-Heinz Augustin
"Wir müssen daran arbeiten, die komplexen Systeme abzuschotten und zu schützen."
Um hier weitere Expertise aufzubauen, haben Sie kräftig in Labors und Testumgebungen investiert – unter anderem durch den Erwerb des Lausitzrings. Was genau hat sich dort schon getan?

Der Lausitzring ist ein Prachtstück. Wir sind froh, dass wir ihn erwerben konnten. Die unmittelbare Nähe zu unserem Technologiezentrum in Klettwitz ist ein weiterer Glücksfall. Die Möglichkeiten auf dem Gelände sind riesig. Wir bauen dort das größte herstellerunabhängige Testfeld für automatisierte und vernetzte Mobilität in Europa auf und können diese in unterschiedlichen Situationen darstellen – sei es im Überland- oder im Stadtverkehr. Dazu errichten wir entsprechende flexible Citykurse. Es braucht dörfliche Szenarien und Megacity-Häuserschluchten ebenso wie Tunnelsituationen, um wirklich alle Anwendungsfelder zu testen. Wir sind stolz darauf, dass sich die Deutsche Telekom dazu entschlossen hat, unser Partner zu werden, und dort eine Infrastruktur für den neuen Kommunikationsstandard 5G aufbauen wird. Zum Einsatz kommt dann auch C-V2X, also der Telekommunikationsstandard für die Kommunikation zwischen Fahrzeugen, Netz- und Straßeninfrastruktur.

Können Sie erläutern, welche Anwendungen Sie genau in Klettwitz testen werden?

Dekra konzentriert sich dort auf automatisiert und vernetzt fahrende Fahrzeuge. Schon heute überprüfen wir Assistenzsysteme des Automatisierungslevels 3, teilweise auch schon Level 4 (voll automatisiert mit Fahrer). Auf Level 5 (voll automatisiert ohne Fahrer) bereiten wir uns vor. Was Platz und Prüfstände angeht, waren wir in unserem Technologiezentrum in Klettwitz vor dem Kauf des Lausitzrings an der Kapazitätsgrenze. Klettwitz ist Teil unseres internationalen digitalen Testverbunds. Auf unserem Gelände im spanischen Málaga stehen die Themen Drahtlosverbindungen und Konnektivität im Entwicklungsstadium im Vordergrund. Dort kooperieren wir mit einem unserer großen Kunden, dem Mobilfunkbetreiber Telefónica.

Gibt es Pläne für weitere Testfelder?

In Asien haben wir bereits sieben Labors, die sich unter anderem auf Assistenzsysteme und Komponenten konzentrieren und unserem Testverbund angehören. Wir prüfen in den USA, wie wir den Testverbund dorthin ausweiten können.

Die Vernetzung kennt keine Grenzen der Verkehrsträger. Sie haben sich unlängst ein Bild von einem Autocopter machen können: einem Gerät, das fährt und fliegt. Muss man sich darauf einstellen, dass solche Vehikel bald nach Deutschland kommen?

Ein Fahrzeug, das in die Luft geht: Vor ein paar Jahren hätte ich das als Märchen abgetan – bis ich selbst einen solchen Autocopter eines holländischen Start-ups erlebt habe. Den Rahmen bildete unser diesjähriges Global Management Meeting. Das Gerät wiegt nur 600 Kilogramm und ist innerhalb weniger Minuten flugbereit. Das elektrisch betriebene Fahrund Fluggerät beschleunigt auf 60 km/h und hebt dann ab. Nachdem ich das gesehen habe, würde ich heute nichts mehr ausschließen, was technisch schon möglich ist. Ob wir solche Geräte auch in Deutschland erleben werden und ob es eines Tages dafür einen regulativen Rahmen geben wird, steht auf einem anderen Blatt.