Winterreifen-Entwicklung Zielkonflikte und Kühlschranktest

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Schnee ist nicht gleich Schnee. Seine unterschiedlichen Daseinszustände stellen Reifenentwickler vor große Herausforderungen. Zumal die Reifen auch mit trockener und nasser Straße gut klarkommen sollten. Was liegt also näher, als für reproduzierbare Entwicklungsergebnisse den Schnee selbst herzustellen?

Das Großherzogtum Luxemburg ist nicht unbedingt für seinen ganzjährigen Schneereichtum bekannt. Und doch sitzen im europäischen Technikzentrum des Reifenherstellers Goodyear in Colmar-Berg viele Ingenieure das ganz Jahr über an der Entwicklung von Winterreifen. Sie arbeiten in Labors an Gummimischungen oder am Computer an der Optimierung der Lamellen oder Profile. Um die Eigenschaften von Schnee trotz fehlenden Dauerfrosts und durchgängiger Schneedecke besser in die Forschung integrieren zu können, greifen die Ingenieure tief in die Trickkiste und setzen neben High-Tech auch auf die Expertise eines "Schneemanns".

Tibor Fülöp kennt sich mit Schnee aus. Der gebürtige Ungar ist seit 15 Jahren bei Goodyear in der Entwicklung tätig. Dass er zum "Schneemann" wurde, passierte eher zufällig. Man brauchte jemand, der sich für Schnee und seine Eigenschaften interessiert. Fülöp sagte nicht nein und beschäftigt sich seitdem mit den verschiedenen Formen von Schnee. Denn Schnee ist nicht gleich Schnee. Frisch gefallender Pulverschnee fühlt und hört sich zum Beispiel ganz anders an als Schnee, der schon länger liegt und verdichtet ist. Auch der Grip eines Winterreifens hängt von der Schneesorte ab. Wenn Fülöp im Auto unterwegs ist und wissen will, auf welchem Schnee er unterwegs ist, öffnet er das Fenster und lauscht. Am Geräusch des Schnees, wenn das Fahrzeug darüber rollt, kann er die Beschaffenheit der weißen Pracht identifizieren. Es geht aber auch einfacher: Er schaut auf die Reifen des Voranfahrenden. Ist der Pneu komplett mit Schnee bedeckt, handelt es sich um frischen Pulverschnee. Haftet der Schnee in den Profilrillen und sieht der Reifen schwarz-weiß aus, ist der Schnee schon etwas verdichtet. Bei festgefahrenem Schnee setzt sich nichts in der Lauffläche fest, der Pneu ist schwarz. Somit weiß Fülöp, wie gut der Grip seines Reifens sein kann. Wenn alle Greifkanten frei liegen und somit kein Schnee am Reifen klebt, können die vielen Profileinschnitte, also die Lamellen, am besten Kontakt mit dem Untergrund bilden und so für optimalen Grip sorgen.

Die Schneesorte hat also großen Einfluss auf den Grip. Um dies besser zu erforschen, nutzt Goodyear ein Schneelabor auf dem Gelände des Technikzentrums. In einer großen tiefgekühlten Containereinheit herrschen Temperaturen von minus 5 bis minus 38 Grad. Mit einer Schneemaschine lassen sich je nach Zugabe von Temperatur und Luftfeuchtigkeit verschiedene Schneesorten produzieren. Außerdem können Alterungs- und Verdichtungsprozesse vollzogen werden. So nutzten die Forscher zum Beispiel einen Kühlschrank im Kältelabor, um den Alterungsprozess zu beschleunigen. So entstehen Schneeproben für die Erforschung von Winterpneus für unterschiedliche klimatische Bedingungen wie etwa für Mitteleuropa oder für Skandinavien.

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Mittels Micro-Computertomografie werden die Schneeflocken analysiert und in 3D-Modelle umgewandelt.

Der Vorteil der Laborproduktion: Die Schneesorten können immer gleich reproduziert werden, somit ist ihre Beschaffenheit immer identisch. Sie werden etwa mittels Micro-Computertomografie analysiert und in 3D-Modelle umgewandelt und mithilfe von Computersimulationen für die Berechnung von Winterreifenprofilen genutzt.

Außerdem erhöht die Reproduzierbarkeit bei praktischen Versuchen die Vergleichbarkeit. So werden neue Gummimischungen aus dem Versuchslabor auf ihre Wirkung getestet. Diese haben einen wichtigen Anteil an der Wintertauglichkeit eines Pneus. Ihre Zusammensetzung soll zum Beispiel mit den typischen hiesigen Winterbedingungen wie Eis, Schnee, Trockenheit und Regen sowie im Temperaturspektrum von minus 20 bis plus 15 Grad zurechtkommen und optimalen Grip sowie gute Bremsergebnisse bei allen Witterungslagen bieten. Die neuen Gummimischungen werden auf einen Art Stempel gezogen und dann für eine bestimmte Zeit und mit definiertem Druck über die Schneeproben gezogen. Mithilfe von Messgeräten wird so die Reibung der Mischung analysiert. Je nach Wert wird sie für gut befunden oder aussortiert. Damit beschleunigen die Labortests die Entwicklung von Winterreifen erheblich. Da nur die im Schneetest bewährten Mischungen in die Reifen-Prototypenfertigung gehen, müssen weniger Pneus bei aufwändigen Erprobungsfahrten in Skandinavien oder Neuseeland auf ihre Wintertauglichkeit getestet werden. Das spart Geld und auch Zeit. Veränderungen bei der Beschaffenheit von Schnee aufgrund von klimatischen Veränderungen können so schneller berücksichtigt werden. Der Arbeitsplatz des Schneemanns dürfte daher noch eine Weile gesichert sein.

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