Daimler Truck testet Baustellen-Warnsystem

Auffahrunfälle an Baustellen
Frühwarnung in Echtzeit vor Gefahren

Im Schnitt gibt es rund 300.000 Tagesbaustellen auf Autobahnen im Jahr. Das sind knapp 1.200 Tagesbaustellen pro Werktag, bei denen fahrbare Absperrtafeln eingesetzt werden. Gleichzeitig werden 25 Mitarbeiter in diesen Bereichen verletzt. Nun teste Daimler Truck ein System, das Fahrer frühzeitig vor mobilen Baustellen warnt.

brennpunkt
Foto: Jan Bergrath

Der Termin für eine Versuchsfahrt im Kundencenter von Mercedes Benz in Wörth war bereits von langer Hand geplant. Mit einem Versuchsfahrzeug, einem Actros 1853, zum Ballastausgleich mit einem Bürocontainer auf der Hinterachse, hatte der Bereich Software und Konnektivität der Daimler Truck AG unter Leitung von Dr. Christian Ballerin zunächst zu einem Vorgespräch über ihr jüngstes Feature "Connected Traffic Warnings" und dann zu einer hochinformativen Fahrt ein kurzes Stück über die B 9 auf die A 65 Richtung Landau eingeladen.

Tagesbaustellen – täglich über 1.000 Gefahrenquellen

Damit ging es auf die Suche nach einer Tagesbaustelle. Allein bei der Autobahn GmbH gibt es nach deren Angaben im Schnitt rund 300.000 Tagesbaustellen im Jahr, also knapp 1.200 pro Werktag, bei denen fahrbare Absperrtafeln (FAT), auch Pfeilanhänger genannt, zum Einsatz kommen. Eine vorbereitete Tagesbaustelle hatte die Autobahn GmbH Südwest für den Raum Karlsruhe nach Anfrage kurzfristig abgesagt. Die Begründung: "Für die Vorstellung dieses Systems benötigt Daimler Truck keinen mit C-ITS (Cooperative Intelligent Transport System) ausgestatteten Vorwarner der Autobahn GmbH, da es sich bei Connected Traffic Warnings und C-ITS um zwei unabhängige, nicht verknüpfte Systeme handelt." Allerdings stellte sich der Sachverhalt im Laufe der Fahrt dann aber doch anders dar. Die Unfallgefahr auf den überlasteten Autobahnen Deutschlands ist weiter hoch. Denn neben den Autobahn-eigenen FAT werden auch FAT von Verkehrssicherungsfirmen, die im Auftrag der Autobahn GmbH agieren, im Rahmen von notwendigen Arbeitsstellen für Absicherungsmaßnahmen eingesetzt. Die Anzahl von FATs der Verkehrssicherungsfirmen ist um ein Vielfaches höher als die der Autobahn GmbH, sagt ein Sprecher. Es werden alle Arbeitsstellen der Autobahn GmbH gemäß den Vorgaben der RSA 21 abgesichert. Bei einem längeren Fahrstreifenentzug kommen grundsätzlich eine fahrbare Absperrtafel und zwei Vorwarner zum Einsatz.

Digital voraus: Actros erkennt Wanderbaustellen

Also Abfahrt. Es geht schnell raus aus dem Werk, der morgendliche Stau ums Autobahndreieck Karlsruhe hat sich bereits etwas gelegt. Am Steuer Stefan Engelen, Entwicklungsingenieur bei Daimler Truck, auf der Beifahrerseite Kristina van Capelle, Softwareentwicklerin bei Daimler Truck, auf der Rückbank der Autor neben Dieter Schäfer, Geschäftsführer des Vereins "Hellwach mit 80 km/", der seit 2018 ehrenamtlich gegen die anscheinend nicht zu stoppenden tödlichen Auffahrunfälle am Stauende kämpft, und Pressesprecherin Carola Pfeifle, die diesen Termin dankenswerterweise organisiert hat. In der Tat: Wir wissen bereits durch einen Blick auf das neue Multimedia Cockpit Interactive 2 mit Navigationsdienst und einem aktiven TruckLive-Vertrag, dessen erste Fahrzeuge nun ausgeliefert werden, wo sich die nächsten Tagesbaustellen befinden.

Live-Daten warnen frühzeitig vor Gefahrstellen

Auch Dank der Daten der Autobahn GmbH, die einen großen Teil ihrer Informationen zur Verfügung stellt. Der Blogbeitrag "Ein echter Gamechanger" auf eurotransport.de widmet sich inklusive eines kurzen Videos der Versuchsfahrt mit dem jüngsten Sicherheitsfeature des Konzerns auf dem Weg zur Vision Zero. Denn eigentlich sollten diese überwiegend quadratischen Gitteranhänger hinter dem Zugfahrzeug von einem ständig aufmerksamen Fahrer nicht zu übersehen sein.

Tödlicher Crash trotz Assistenzsystem

Genau diese Annahme wird am Vortag der Versuchsfahrt, am 5. Mai, auf der A 38 bei Bleicherode jäh aus der eigenen Vision gerissen. Ein auf YouTube kursierendes Video, das ein ukrainischer Fahrer bereits auf der linken Spur Richtung Göttingen weit vor der FAT in seiner Dashcam aufgezeichnet hatte und mittlerweile auch der Autobahnpolizei Thüringen zur Verfügung gestellt hat, zeigt, dass der deutsche Planengliederzug trotz verzweifelten Hupens nahezu ungebremst in das Hindernis rast – und der Fahrer dabei trotz aller Rettungsmaßnahmen ums Leben gekommen ist.

Fragen zur Aktivierung des Bremsassistenten

Auf Nachfrage bestätigte deren Pressestelle zunächst, dass es sich um einen Actros mit der Erstzulassung 7/2020 handelt, der also einen modernen Active Brake Assist (ABA5) serienmäßig verbaut haben sollte.Später heißt es: "Ob der Bremsassistent des betroffenen Lkw aktiv bzw. eingeschaltet war, kann seitens der Polizei nicht beantwortet werden. Der Autobahnpolizei liegt keine Diagnosesoftware zum Auslesen des Steuergerätes vor. Aus dem analytischen Gutachten des Sachverständigen geht dies ebenfalls nicht hervor." Weiter heißt es: Anhand der aufgefundenen Spuren und nach Auswertung des Fahrtenschreibers könne lediglich bestätigt werden, dass kurz vor der Kollision ein Bremsvorgang stattgefunden hat. Ob dieser durch den Fahrer oder durch ein Assistenzsystem ausgelöst wurde, lasse sich nicht sagen. Zur Frage nach möglichen gesundheitlichen Problemen des Fahrers könne keine Aussage getroffen werden. Eine Obduktion des Verstorbenen habe nicht stattgefunden.

Wanderbaustellen oft ohne letzte Warnung

Genau genommen hat es sich laut Autobahn GmbH auf der A 38 um eine Arbeitsstelle kürzerer Dauer gehandelt, umgangssprachlich eine "Wanderbaustelle". Der kurze Mitschnitt aus der Dashcam eines anderen Verkehrsteilnehmers beginnt erst rund 250 Meter vor der Absperrtafel, sodass der zweite Vorwarner rund 300 bis 500 Meter vor der FAT auf dem Video nicht mehr sichtbar ist.

Ernüchternd: Da es sich um eine mobile Arbeitsstelle handelte, konnten keine sogenannten Rüttelschwellen angebracht werden. Diese drei quer zur Fahrbahn liegenden gelben Schwellen sind sonst womöglich die allerletzte Rettung, nachdem auch zugunsten der modernen C-ITS-Technik auf einfache Radarreflektoren verzichtet worden ist. Erst drei Wochen zuvor war in der Gegenrichtung diesmal ein MAN mit einer FAT kollidiert. Ohne schwer Verletzte.

Connected Traffic Warnings zeigt Wirkung

Unsere erste angezeigte Wanderbaustelle auf der A 65 ist offenbar schon weitergewandert. Vorerst keine Gefahr. Erst weit entfernt. Dieter Schäfer ist begeistert: "Fährt der neue Actros in einen Bereich mit Gefahrenmeldung ein, erhält der Fahrer in einem Radius von zehn Kilometern eine Warnmeldung im Display angezeigt. 500 Meter vor der Gefahrensituation wird er laut und gut vernehmbar in seiner im System einstellbaren Muttersprache gewarnt. Der Fahrer kann sich also darauf einstellen."

C-ITS findet kaum Anwendung bei Lkw

Über 1.200 FAT sind laut Autobahn GmbH mittlerweile mit dieser Technik ausgestattet, Details zu dieser hybriden Kommunikation mit WLANp und Mobilfunk bietet der Brennpunkt des FERNFAHRER aus Juli 2022 unter dem Titel "Frühere Warnung vor mobilen Warntafeln". Schon damals hatte Schäfer beklagt, dass außer der Pkw-Sparte von VW sich bislang kein Nutzfahrzeughersteller den Möglichkeiten angeschlossen habe.Das bestätigt nun auf Nachfrage auch der Sprecher. "Nach Kenntnisstand der Autobahn GmbH des Bundes setzt derzeit kein Lkw-Hersteller die Direktkommunikation via C-ITS im Serienbetrieb um. Die Autobahn GmbH des Bundes stellt mit C-ITS eine Lösung bereit, die auf europaweit harmonisierten Standards beruht. Dies ist für die Umsetzung in der Automobilindustrie eine grundlegende Voraussetzung, und es ist sichergestellt, dass alle am System teilhaben können."

Vermeidung durch Vernetzung und Überwachung

Gut vorgewarnt fahren wir der nächsten Baustelle entgegen. Ein weißer Sattelzug überholt uns. Anders als wir, ist er wohl noch nicht vorgewarnt. In der Zwischenzeit spielt die charmante Kristina van Chapelle die Wettergöttin und schenkt uns über ihr Handy einen in der Ferne drohenden Starkregen. "Die Daten kommen teilweise von Bosch", erläutert sie, "zugeliefert über die Cloud aus sich in dritter Stufe bewegender Wischerblätter aller angeschlossenen Fahrzeuge." Das ist beeindruckend. So wie die insgesamt bislang im System hinterlegten zehn Ereignisse oder Events, die alle mit einem eigenen Symbol gekennzeichnet sind.

Nach tiefenentspannter Rückkehr ins Werk zieht Dieter Schäfer sein Fazit: Zum einen kritisiert er nach einer Meldung des Innenministeriums von Sachsen-Anhalt eine immer noch fehlende bundesweite Unfallstatistik zu Unfällen am Stauende. "Die Erkenntnis, dass man solche Fälle erfassen und auswerten sollte, um präventiv besser aufgestellt zu sein, kommt spät, aber sie kommt." Sekundenschlaf und Ablenkung seien immer noch die wichtigsten Gründe von Auffahrunfällen mit großem Anlauf. "Wir brauchen effizientere Verkehrsüberwachungsmethoden der Autobahnpolizeien der Länder. Es sollten wiederkehrende, konzertierte Wochenaktionen benachbarter Bundesländer entlang ausgewählter Transitrouten stattfinden. Der Kontrolldruck auf Handy-Sünder muss erhöht werden."

Die Einführung des "Cooperative Intelligent Transport System", das erklärt "Hellwach mit 80 km/"-Chef Dieter Schäfer abschließend, "mag auf europäischen Standards basieren. Sie ist trotzdem schlecht vorbereitet worden. Wichtig ist, dass über die technischen Möglichkeiten der Cloud-basierten Mobilithek der Bundesregierung nun über Daimler Trucks Bewegung in die georeferenzierte Gefahrenerkennung kommt. Denn auch hierzu liefert die Autobahn GmbH ja wichtige Daten."