Die Autoindustrie steckt mitten im digitalen Umbruch – und deutsche Hersteller laufen Gefahr, den Anschluss zu verlieren. Vor allem im Bereich Softwareentwicklung tun sich tiefgreifende Schwächen auf, wie René Schröder im Interview erklärt. Der Berater für digitale Produktentwicklung benennt die Ursachen klar: zu langsame Prozesse, veraltete Denkweisen und eine Kultur, die Fehler eher meidet als nutzt. Schröder erläutert, warum chinesische Hersteller längst voraus sind, weshalb OTA-Updates allein nicht reichen – und wieso smarte Softwarelösungen für Flottenkunden inzwischen wichtiger sind als reine Hardware-Qualität.
Haben deutschen Autobauer die Bedeutung von Software unterschätzt. Welche Fehler sind am gravierendsten?
Der größte strukturelle Fehler war, dass Software lange wie ein klassisches Produkt behandelt wurde – mit dem Anspruch, sie intern vollständig zu kontrollieren und perfekt fertigzustellen, bevor man sie in die Hände der Nutzer gibt. Das ist bei Software aber der falsche Ansatz. Software lebt vom schnellen Lernen, vom Testen am realen Markt – sie braucht agile Strukturen, crossfunktionale Teams, kurze Feedbackschleifen.
Dazu kommt: In Schlüsselpositionen bei der Softwareentwicklung saßen oft Manager mit Hardware-Hintergrund. Man hat Software behandelt wie eine weitere Komponente des Fahrzeugs – statt sie als zentrales, eigenständiges Produkt zu verstehen. Und Entscheidungsprozesse waren zu schwerfällig: Projekte wurden über Jahre geplant, anstatt Hypothesen frühzeitig zu testen und iterativ weiterzuentwickeln.
Chinesische Hersteller punkten mit digitalem Nutzererlebnis und Over-the-Air-Updates – was machen sie anders als VW und Co.?
Sie arbeiten wie Tech-Unternehmen, nicht wie traditionelle Autobauer. Das fängt bei der Architektur an: Sie bauen zentrale Plattformen, bei denen die Software kontinuierlich weiterentwickelt werden kann – unabhängig von der Hardware. Neue Funktionen kommen per OTA-Update, oft monatlich. Und ganz entscheidend: Sie entwickeln hypothesenbasiert. Das heißt, sie liefern schnell eine erste, funktionale Version, beobachten das Nutzerverhalten und verbessern dann zielgerichtet.
Außerdem sind die Entscheidungswege flacher. Ein Softwareteam kann dort innerhalb von Wochen etwas live bringen, während man in einem großen deutschen Konzern dafür oft ein Jahr und mehrere Gremien braucht.
VW investiert Milliarden in seine Software-Tochter Cariad und trotzdem läuft es nicht. Woran liegt es Ihrer Meinung nach?
Investitionen lösen keine strukturellen Probleme, wenn die zugrunde liegende Kultur nicht passt. Cariad hat sich jahrelang mit zu großen Zielbildern überfordert – alles auf einmal, für alle Marken. Gleichzeitig hat man versucht, die Softwareentwicklung mit traditionellen Methoden und Hierarchien zu steuern. Statt in kleinen, lernfähigen Schritten voranzugehen, hat man riesige Plattformprojekte geplant – mit enormem Abstimmungsaufwand, aber wenig greifbarem Fortschritt. Und solange Teams keine Autonomie haben, Fehler machen dürfen und direkt am Nutzer lernen, wird sich daran wenig ändern.
Wie groß ist der Imageverlust für VW in China und wie wirkt sich das auf die weltweite Wettbewerbsfähigkeit aus?
Er ist dramatisch. In China sind digitale Funktionen heute das Kaufkriterium Nummer eins, besonders bei der jungen Generation. Und wenn man als ausländischer Hersteller dort nicht mit digitalen Erlebnissen, OTA-Updates und Services überzeugt, verliert man den Anschluss.
Das Image von VW war früher: Qualität, Zuverlässigkeit, Technik. Heute steht es in China oft für: langsam, wenig innovativ, nicht digital. Und das hat Auswirkungen weit über China hinaus. Denn was dort heute Standard ist, erwarten morgen auch Kunden in Europa und Nordamerika. Wer in China abgehängt wird, verliert mittelfristig die globale Innovationsführerschaft.
Was muss sich ändern, damit man bei Software und digitalen Funktionen wieder international mithalten kann?
Erstens: Software muss als zentrales Produkt verstanden und behandelt werden – mit eigener Produktverantwortung, eigenen KPIs, eigener Kultur. Zweitens: Teams brauchen mehr Autonomie. Weniger PowerPoint, mehr Testumgebungen. Weniger Entscheidungskaskaden, mehr evidenzbasierte Entwicklung.
Drittens: Fehler müssen erlaubt sein. Nicht als Nachlässigkeit, sondern als Teil eines systematischen Lernprozesses. Es geht nicht um mangelhafte Qualität, sondern um passende Qualität, die frühzeitiges Feedback und kontinuierliche Verbesserung ermöglicht. Und viertens: Kundenfeedback muss systematisch in die Entwicklung einfließen – datenbasiert, nicht aus der Annahme heraus, man wisse es besser.
Wie wichtig ist es, dass Fahrzeuge heute als digitale Plattformen funktionieren? Reicht "gute Hardware" noch aus?
Nein, gute Hardware ist nur noch das Fundament. Entscheidend ist die Software, die darauf läuft – und ob ich darüber Mehrwertdienste nutzen, Flottenfunktionen steuern oder remote aktualisieren kann. Gerade gewerbliche Kunden achten heute auf: Kann ich Ladeverhalten analysieren? Kann ich Fernwartung integrieren? Gibt es automatisierte Diagnosen oder Updates?
Ein Auto ohne digitale Plattform ist für viele Flottenbetreiber ein Kostenrisiko – weil es weniger steuerbar, weniger flexibel und schwerer zu integrieren ist. Software ist heute kein Zusatz, sondern das Rückgrat betrieblicher Mobilität.
Glauben Sie, dass sich deutsche Hersteller im Softwarebereich strategisch neu aufstellen können – oder ist der Rückstand uneinholbar?
Uneinholbar ist er nicht – aber es wird ein Kraftakt. VW hat erste richtige Schritte gemacht, etwa mit Partnerschaften in China. Auch personell bewegt sich etwas.
Aber entscheidend ist: Man darf sich nicht mehr einreden, man könne Software nebenbei lösen. Es braucht einen echten Strategiewechsel – hin zu mehr Geschwindigkeit, mehr Autonomie und mehr Lernen am Markt. Wenn das gelingt, können die deutschen Hersteller ihren Rückstand aufholen. Aber nicht, indem sie "mehr vom Alten" machen. Sondern indem sie Verantwortung, Tempo und Feedbackorientierung radikal neu denken.
Zum Autor
René Schröder ist Gründer und Geschäftsführer der RegSus Consulting GmbH und Experte für Produkt- und Softwareentwicklungsprozesse und digitale Transformation. Mit dem von ihm entwickelten Imperfect Product Paradigm (IPP) hilft er mittelständischen Unternehmen, gezielt ineffiziente Prozesse zu optimieren und Wettbewerbsvorteile zu sichern. Sein Fokus liegt auf nachhaltiger Produktentwicklung, die Effizienz und Markterfolg steigert. Mehr Informationen unter: https://regsus.de/