Er kam vor 50 Jahren, als Deutschland nach der ersten Ölkrise in der Rezession steckte. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – weckte der Vorserienstart des Mercedes-Benz 450 SEL 6.9 (W 116) im kalten Februar 1975 Frühlingsgefühle. Wirtschaftlicher Aufschwung und Vorfreude auf bessere Zeiten, das verkörperte dieser Luxuskreuzer, der die Titelseiten der Medien eroberte, obwohl sich seine technischen Highlights nur die Bestverdienenden leisten konnten.
Der Preis des Luxus: Exklusivität ohne Protz
Mit Preisen ab rund 70.000 Mark kostete der knapp 6,9 Liter große V8 gut das Doppelte eines Mercedes 350 SE mit 3,5-Liter-V8, und der prestigeträchtige Zwölfzylinder-Jaguar XJ für 47.000 Mark oder das BMW-Flaggschiff 3.3 L für gut 29.000 Mark wirkten im Vergleich beinahe wie Billigangebote. Trotz noch mehr Hubraum als im staatstragenden 600 Pullman bot der Benz keine Angriffsfläche für Sozialneid, denn optisch gab sich der 450 SEL 6.9 wie jede andere S-Klasse mit langem Radstand der Baureihe W 116. Nur wer ganz genau hinsah, erkannte die verräterisch breiten Reifen oder die serienmäßigen Scheinwerferwischer des 6.9. Ein Tarnkleid als Erfolgsgarant: Fast 7.400 Einheiten seines mit 210 kW/286 PS damals stärksten Businessjets verkaufte Mercedes in fünf Jahren.
Schneller als die Concorde? Der Erfolg des 6.9
Während Air France und British Airways 1975 den Start des Überschall-Linienverkehrs mit der Concorde noch einmal um ein Jahr verschoben, riskierte Mercedes den Start Luxuslimousine und verkaufte sie fast wie ein Volumenmodell. Die geplanten Absatzzahlen des 6.9 wurden weit übertroffen, und selbst relativ gefragte Benz-Rivalen wie Aston Martin Lagonda oder De Tomaso Deauville erreichten gerade einmal acht Prozent der Produktionszahlen der schnellsten Lounge mit Stern.

Große Ahnengalerie – Die S-Klasse W 116 mitten zwischen Vorgängern und Nachfolgern.
Leistungsbekenntnis trotz Ölkrise
Ungeachtet erster Debatten über Umweltschäden durch den Straßenverkehr und die Verschwendung knapper Ressourcen durch großvolumige Automobile sowie Forderungen nach einem dauerhaften Tempolimit auf deutschen Autobahnen gab Mercedes ein klares Leistungsbekenntnis ab: 286 PS und damals monumentale 550 Nm bereits bei 3.000 U/min entwickelte der Achtzylinder mit Trockensumpfschmierung im 6.9. Das garantierte Fahrleistungen auf bestem Sportwagenniveau. Die 100-km/h-Marke passierte die chromglänzende Limousine in 7,4 Sekunden, damit war der 5,06 Meter lange und bis zu 2,4 Tonnen schwere Koloss sogar dem Porsche 911 Targa überlegen. Als Vmax gab Mercedes nur 225 km/h an, Testberichte notierten jedoch bis zu 237 km/h, womit der 6.9er die bis dahin schnellste Limousine der Welt, den Jaguar XJ12, übertraf.
Die schnellste Limousine der Welt
"Zivilcourage", "Zukunftsoptimismus", "Fabelhaft" oder schlicht "Das beste Auto der Welt" lauteten die Schlagzeilen in der Presseschau über das Spitzenmodell der Baureihe W 116. Kritik am hohen Verbrauch von 16 Litern (Normwert) und 23 Litern in Testberichten gab es kaum, schließlich konsumierte beispielsweise der Jaguar V12 noch gut 20 Prozent mehr. Und der riesige 96-Liter-Tank garantierte dem V8 trotzdem große Reichweiten.

Safety First – Ab 1978 gab es die S-Klasse als erste Luxuslimousine mit ABS-Bremssystem.
Komfort statt roher Gewalt
Eigentlich ging es Mercedes weniger um Geschwindigkeit als um Komfort. Der V8 mit einer sanft schaltenden Dreigang-Automatik lud zum Dahingleiten ein und beeindruckte durch ein kaum wahrnehmbares Motorgeräusch dank des bereits bei 3.000 Umdrehungen anliegenden Drehmomentmaximums. Überragenden Komfort bot auch die serienmäßige hydropneumatische Federung mit Niveauregulierung an Vorder- und Hinterachse.
Der Klassikerstatus heute
Die Relevanz des Mercedes-Benz 450 SEL 6.9 für die Oldtimerszene erläutert Experte Martin Heinze von Classic Analytics: "Schnell, sicher und komfortabel reisen, das ging Mitte der 70er Jahre in kaum einem Auto so gut wie im 6.9. Gute Exemplare sind heute nicht unter 45.000 Euro brutto zu bekommen."
Chronik des Mercedes-Benz 450 SEL 6.9
1966: Entwicklungsbeginn
Die Entwicklung der neuen S-Klasse der Baureihe W 116 beginnt.
1972: Offizielle Einführung der S-Klasse
Die Bezeichnung "S-Klasse" wird erstmals mit der Baureihe W 116 offiziell eingeführt. Die W 116 ersetzt die Sechszylinder-Baureihe W 108/109 und startet mit den Modellen 280 S, 280 SE und 350 SE (V8). Später folgen die 450 SE und 450 SEL. Eine technische Neuerung ist die aus dem Wankel-Erprobungsfahrzeug C 111 übernommene Doppelquerlenker-Vorderradaufhängung mit Null-Lenkrollradius. Sie verbessert die Fahreigenschaften erheblich. Zu den Sicherheitsmerkmalen der neuen S-Klasse gehören ein kollisionsgeschützter Tank, ein Vierspeichen-Sicherheitslenkrad, großflächige Scheinwerfer und schmutzabweisende Heckleuchten. Außerdem beginnt Mercedes mit der Entwicklung eines neuen Spitzenmodells: des 450 SEL 6.9 als Nachfolger des 300 SEL 6.3. Parallel entwickelt BMW unter dem Projektnamen M33 einen ersten V12, verschiebt die Markteinführung jedoch.
1973: Premiere der 450 SE und 450 SEL
Im September stellt Mercedes die V8-Modelle 450 SE und 450 SEL vor.
1974: Verzögerung des 450 SEL 6.9
Nach der ersten Ölkrise startet der Import des 280 S in die USA, jedoch mit reduzierter Leistung (120 PS). Der Marktstart des 450 SEL 6.9 wird aufgrund der politischen Lage auf unbestimmte Zeit verschoben.
1975: Serienproduktion des 450 SEL 6.9
Der 450 SEL 6.9 hebt sich optisch kaum von anderen S-Klasse-Modellen ab – lediglich durch Scheinwerfer-Wischer und breitere Reifen. Der 450 SEL 6.9 gilt als direkter Nachfolger des 300 SEL 6.3 und setzt die Tradition leistungsstarker Luxuslimousinen fort.
1978: Einführung des ABS
Eine bahnbrechende Neuerung feiert Premiere: Das Anti-Blockier-System (ABS) wird erstmals in der S-Klasse angeboten und verbessert die Fahrsicherheit deutlich.
1979: Premiere der neuen S-Klasse (W 126)
Auf der IAA Frankfurt feiert die neue S-Klasse-Generation W 126 ihre Weltpremiere.
1980: Produktionsende des 450 SEL 6.9
Nach insgesamt 7.380 Einheiten läuft die Produktion des 450 SEL 6.9 im Mai 1980 aus.
Technische Daten Mercedes-Benz 450 SEL 6.9: Oberklasse-Limousine, Länge: 5,06 Meter, Breite: 1,87 Meter (mit Außenspiegeln: k.A.), Höhe: 1,41 Meter, Radstand 2,96 Meter, Kofferraumvolumen: 579 Liter,6,85-Liter-V8-Benziner, 286 PS, Dreigang-Automatik, maximales Drehmoment: 550 Nm bei 3.000 U/min, 0-100 km/h: 7,4 s, Vmax: 225 km/h, Normverbrauch: 16,0 Liter/100 km, Preis: ab 69.930 Mark (1975).
Preise Mercedes-Benz 450 SEL 6.9 lagen zwischen 69.930 Mark (Mai 1975) und 81.247 Mark (September 1979).