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Mercedes EQS Tour ans Nordkap

Mercedes EQS 2023 Foto: SP-X/Benjamin Bessinger 11 Bilder

Mit dem Elektroauto ans Nordkap? Angeblich kein Problem mehr. Lesen Sie hier, wie sich der Mercedes EQS auf der Langstrecke geschlagen hat.

Exakt 3.157 Kilometer und 37 Stunden Fahrzeit - wer von der Mitte Deutschlands ans Nordkap fahren will, der braucht viel Zeit und jede Menge Sitzfleisch. Und wer dabei die übliche Route über Kopenhagen und Stockholm verlässt und stattdessen durchs Baltikum fährt, zusätzlich auch noch ein bisschen Abenteuergeist. Erst recht mit einem Elektroauto. Selbst wenn es ein Mercedes EQS ist, der vielen als aktuell beste Limousine an der Ladesäule gilt.

Je härter die Prüfung, desto belastbarer die Erkenntnis

Aber nur lamentieren und theoretisieren gilt nicht. Wer wirklich wissen will, was Elektroautos taugen, wie weit man damit kommt und wie die sich im Winter schlagen, der muss es selbst ausprobieren. Und je härter die Prüfung, desto belastbarer die Erkenntnis.

Deshalb liegen vorsichtshalber Schlafsack, Schneestiefel, Esbit-Kocher und Teegeschirr im Kofferraum, als der weiße Riese im Februar erst gen Osten und dann gen Norden startet, um einmal die Ostsee zu umrunden, den Polarkreis zu kreuzen und über die Lofoten und die norwegische Fjord-Küste wieder nach Süden zu drehen.

Mercedes EQS 2023 Foto: SP-X/Benjamin Bessinger
Je härter die Prüfung, desto belastbarer die Erkenntnis.

Unterwegs mit 523 PS

Knapp 108 kWh Batteriekapazität sollten die Sorgen vertreiben, 523 PS die Reisezeit zumindest in Deutschland reduzieren und der Allrad-Antrieb jenseits des Polarkreises die Spikes kompensieren, die sie hier oben sonst alle in den Reifen haben. Und selbst die Wellnessfunktionen von Energizing Comfort, so viel sei schon mal vorweggenommen, werden sich noch als nützlich und angenehm erweisen, wenn man am Tag 12 Stunden und mehr im Auto sitzt.

Wallbox im Hotel ist die Rettung

Die Überraschung bei diesem Roadtrip der Extreme beginnt gleich hinter der ersten Grenze - denn in Polen, mit etwa 75 Prozent Kohlenstrom alles andere als ein grüner Vorreiter in Europa, ist das Ladenetz extrem gut ausgebaut, und die Säulen stehen nicht nur dicht beieinander, sondern haben alle auch richtig Power. Und vor allem sind sie immer frei. Denn weder zwischen Görlitz und Warschau noch am zweiten Tag auf dem Weg zur Grenze nach Litauen ist ein Plug-in-Hybrid oder gar ein reines Elektroauto zu sehen. Und dass Mercedes Me Charge sich partout nicht mit den Säulen verstehen will, ist auch kein Hindernis. Denn im Hotel hängt sehr zur Überraschung der Rezeptionistin eine Wallbox in der Garage und macht den EQS über Nacht sogar kostenlos voll.

Mercedes EQS 2023 Foto: SP-X/Benjamin Bessinger
Hoch im Norden gibt es nur noch wenige und zudem oft weit entfernte Ziele.

Ladeabenteuer in Litauen

Derart gut gerüstet, geht es erst über Fern- und dann über Nebenstraßen mit dem gebotenen Abstand an Kaliningrad vorbei ins Baltikum, wo in Litauen das nächste Lade-Abenteuer wartet. Nicht nur, dass es dort gar kein Abkommen zwischen Mercedes und den Energieversorgern gibt. Nein, der lokale Anbieter hat seine App auch noch in der Landessprache programmiert, und zwar ausschließlich. Und Kreditkarten lassen sich dort auch nicht hinterlegen. Geladen wird nur vom persönlichen Guthaben. Also sucht man sich spät nachts im stürmischen Regen einen freundlichen Fußgänger, der einem tapfer bei der Registrierung hilft und dann mit der lettischen Antwort auf PayPal auch noch das Bargeld in ein Guthaben verwandelt, mit dem sich der EQS in der nächsten Nacht den Strom zieht. Bei einer Ladeleistung weit unter 20 kW allerdings ist das wohl eher Kriechstrom.

Erlaubtes Tempo sinkt mit den Temperaturen

Während in Deutschland noch mit Bleifuß gefahren und in Polen zumindest die 140 km/h ausgereizt wurden, die auf den leeren Autobahnen erlaubt sind, ist das Durchschnittstempo im Baltikum längst dramatisch gesunken, und mit ihm die Temperatur. Deshalb bleibt der Verbrauch weit oben, und selbst wenn der EQS schneller als 80 fährt, sind Werte deutlich unter 20 kWh pro 100 km hier nicht zu erreichen. Kein Wunder, schließlich hat es deutlich unter 0°, und neben der Sitzheizung arbeitet auch die Massage durch. Was das an Reichweite kostet, sieht man sofort auf dem Eco-Bildschirm: Mit eingeschränkten Klimakomfort wären schnell 60, 70 Kilometer mehr drin, und der Sitzkomfort kostet noch mal 20. Wie gut, dass auch hier alle halbe Stunde eine Ladesäule zu finden ist, und dass die sogar relativ flott sind. Denn irgendwie ist es noch viel zu früh, um mit dem Wald am einsamen Ladeplatz den Teekessel aufzusetzen.

Im gemäßigten Tempo geht es weiter nach Norden mit einem Zwischenstopp beim Weihnachtsmann, der hier in Rovaniemi direkt am Polarkreis Dienst schiebt. Anders als im Süden in Estland sind die hier oben so dick zugefroren, dass sie auch den 2,5-Tonner aus Stuttgart tragen und man nicht erst den Umweg bis zur nächsten Brücke fahren muss – schließlich zählt jeder Kilometer, wenn die Lücken im Ladenetz so langsam größer werden.

Mercedes EQS 2023 Foto: SP-X/Benjamin Bessinger
Knapp 108 kWh Batteriekapazität sollten die Sorgen vertreiben, 523 PS die Reisezeit zumindest in Deutschland reduzieren und der Allrad-Antrieb jenseits des Polarkreises die Spikes kompensieren.

Wie wichtig es ist, immer und überall voll zu laden, merkt der Polarexpress ein paar Stunden später im nächsten Nachtquartier, wo der EQS am Donnerstagabend die auf jedem Parkplatz installierte, 220 Volt-Buchse nutzt, mit der hier konventionelle Autos ihren Kühler heizen, damit er bei 20 Grad unter Null nicht einfriert.

Am nächsten Morgen geht’s weiter. Aber natürlich erst, nachdem der Nachbar mit dem Schneepflug am Traktor den Weg wieder frei gefräst hat. Doch so langsam sind Fahrer und Fahrzeug so miteinander vertraut und selbst Plug & Charge funktioniert so gut, dass es keine große Reserve mehr braucht und der EQS mit immer weniger Restreichweite an die Ladesäule rollt. So werden die Etappen länger, die Pausen besser gewählt und bisweilen fährt die Stuttgarter Limousine tatsächlich mal 400 Kilometer am Stück.

Mit jedem Meter näher an die Heimat ändert sich allerdings auch das Fahrgefühl. Eben noch tiefenentspannt und tempolimitiert, hört man auf der deutschen Autobahn wieder den Lockruf der Leistung und ist ruck zuck zurück im Kampf auf der linken Spur. Mit den üblichen Konsequenzen: Das Tempo geht rauf und die Reichweite runter. Auch wenn es 20 Grad wärmer ist als am Polarkreis, sind die verbrieften 679 Kilometer so deshalb hier genauso wenig zu schaffen, hier wie dort muss man mit rund 500 Kilometern mehr als zufrieden sein. Nun, am Ziel zeigt der Trip-Computer 9.117 Kilometer, 137 Stunden, 66 km/h Durchschnittgeschwindigkeit und 26,6 kWh Durchschnittsverbrauch an.

Mercedes EQS SUV
Start in drei Varianten