Autonomes Fahren im Selbstversuch Hinterm Steuer eines selbstfahrenden Nissan Leaf

Nissan Leaf Foto: Nissan 2 Bilder

Einige Hersteller sind schon recht weit auf ihrem Weg zum vollautonomen Fahren. Eine Fahrt mit einem Prototyp im Stadtverkehr zeigt allerdings auch, welche technischen Fragen noch gelöst werden müssen.

Nerviger, unfallträchtiger, verwirrender und qualvoll zähfließender geht es kaum noch in Europa. Der Londoner Innenstadtverkehr an einem Wochentag um 10.14 Uhr ist ein Alptraum. Horden von eiligen Fußgängern, Baustellen, Kreisverkehre, enge Straßen, Lieferwagen und Taxis kreuz und quer; viel Stop, wenig Go. Und mittendrin: eine Oase der Entspannung für Tetsuya Iijima und seine Mitfahrer.

Der Entwicklungschef für autonomes Fahren bei Nissan sitzt nämlich am Steuer eines Elektroautos vom Typ Leaf - und macht in den 45 Minuten, die für acht Kilometer Wegstrecke nötig sind: nichts. Das Lenkrad rührt er nicht an, auch Bremse und Gas nicht. Meist schaut er seelenruhig zum Mitfahrer nebenan statt auf die Straße. Der Mann vertraut eben seinem Prototypen.

In diesem Leaf hat sein Team fast alles verbaut, was die Japaner derzeit parat haben, um autonom auch durch das schlimmste Innenstadt-Gewusel zu kurven: Zwölf Kameras, die rund um das Auto und bis in weite Ferne voraus den Überblick behalten, fünf Radar-Systeme, die den mittleren Abstand im Blick behalten, diverse Laserscanner, die auf den Millimeter genau die nähere Umgebung überwachen - und das verbunden mit einer Karte der Umgebung, die im Auto gespeichert ist. "Die ist extrem viel genauer als alle GPS-Daten für das Navi - und das brauchen wir auch", sagt Iijima.

Riesige Datenmengen für digitale Karten

Womit er auch schon ein erstes Problem auf dem Weg zum vollautonomen Fahren beschreibt: Die Datenmengen für die Superkarten sind gigantisch - und Nissan muss sie für jeden Weg selbst erst mal aufzeichnen. Denn die Kartenangebote von Satelliten-Diensten wie GPS oder Galileo oder kamerabasierten Services wie Google Street View sind zu ungenau, damit die Selbstfahrer immer und überall unfallfrei, zügig und komfortabel unterwegs sein können.

Das aber ist das Ziel: Besser und sicherer als der menschliche Fahrer zu sein - der durch sein Fehlverhalten heutzutage ja für neun von zehn Unfällen verantwortlich ist. Beim Abbiegen von der Victoria Road in das Wohngebiet Poplar gibt es dafür ein gutes Beispiel. Plötzlich wechselt ein Taxi neben uns die Spur, schneidet den Nissan bei voller Fahrt. Vollbremsung! Vom Computer, nicht von Iijima, versteht sich.

Auf dem virtuellen Cockpit sieht der Mensch hinter dem Lenkrad allerdings diese und viele andere Hindernisse und Verkehrszeichen exakt durch farbige Symbole eingeblendet - und auch die Gefahren, die von Autos, Fußgängern oder den allgegenwärtigen Fahrradboten in Londons City ausgehen. Der Leaf fährt dabei äußerst vorausschauend, sehr sanft und immer auf der Spur und Strecke, die der Computer als die schnellste und stromsparendste errechnet hat. "Kein menschlicher Fahrer würde das so effizient hinbekommen", ist sich der Nissan-Entwickler sicher.

Was der Mensch allerdings besser kann, wird auch auf lange, lange Sicht noch eines sein: Die Reaktion auf das Unvorhersehbare, oft eigentlich Regelwidrige. Und das gibt’s gar nicht so selten. Vollsperrungen einer Straße etwa, die den Wechsel auf die Gegenfahrbahn erfordern - oder ein Unfall voraus, bei dem ein Polizist mit den Armen rudernd zum Ausweichen über den Randstreifen auffordert. Das lässt sich schlecht programmieren, und auch Kameras und Laserscanner bleibt die Geste erst mal ein Rätsel.

Seamless Autonomous Mobility

Nicht aber Ali Mortazavi. Der Manager von Nissans Autonomic Drive Programms sitzt im Silicon Valley und entwickelt dort unter anderem die Lösungen für das Unerwartete. Und hier bringt er den Kollegen Sam ins Spiel. Das ist eine Abkürzung für "Seamless Autonomous Mobility" - aber nicht allein für eine seelenlose Datenbank. Der Gedanke hinter Mortazavis Entwicklung ist vielmehr der: "Wenn der Computer nicht mehr weiter weiß, kann Sam nahtlos eingreifen." Das funktioniert vereinfacht ausgedrückt so: Erkennt die Kamera auf dem Dach etwa den Polizisten, der mit einer Handbewegung zum Wechsel auf die Gegenspur auffordert, dann schaltet sich blitzschnell ein menschlicher Helfer in der Datenzentrale ein, der die Geste kennt und das Auto fernlenken kann. Der Passagier im Fahrzeug muss dazu nichts machen. "Die Technik und das System für die Datenübertragung und Fernwartung haben wir von der Nasa", so Mortazavi. Die US-Weltraumbehörde nutzt diese Lösung schon lange, um etwa Fahrzeuge auf dem Mond in schwierigen Situationen von der Erde aus fernzusteuern. Und die dafür nötige Datenmenge wird so stark heruntergerechnet, dass es zum zackigen Eingreifen auch ein langsames Mobilfunknetz tut.

Mortazavi weiß aber genau deswegen auch, wo die Grenzen jedes Autokonzerns beim Weg zum vollautonomen Fahren sind: "Wenn die unerwartete, unprogrammierbare Situation etwa in einem Tunnel ohne Mobilfunknetz passiert, dann kann auch Sam nicht helfen." Das bedeutet: Auch in weiterer Zukunft wird ein Auto ohne Lenkrad und Pedale nicht überall fahren können - oder die staatlichen Behörden rüsten die gesamte Infrastruktur so auf, dass lückenlose Fernlenkung möglich ist.

Bis dahin wollen die Nissan-Entwickler natürlich nicht warten. Der automatisierte Assistent für die Autobahn kommt bereits in den kommenden Monaten für den Qashqai und den nächsten Leaf, ab 2018 kann er dort auch die Fahrbahnen alleine wechseln. Und 2020 wird für die Innenstadt ein Kreuzungsassistent nachgereicht. Der kann an diesen besonders unfallträchtigen Stellen das Kommando übernehmen.

Und absolut autonom unterwegs wie im Leaf-Prototyp, wann kommt das? Da legen sich Iijima und Mortazavi angesichts der Herausforderungen an Daten, Infrastruktur, Rechtsrahmen oder Kartengenauigkeit lieber nicht fest: "202-X" heißt die zeitliche Ziellinie. Bis dahin wühlen wir uns also noch weitgehend selbst durch das tägliche Chaos auf unseren Straßen.