Auf dem Weg zum autonomen Fahrzeug: Die neue Mercedes E-Klasse lenkt, bremst und überholt selbstständig. Doch der wahre Fortschritt liegt in den anderen Sicherheitssystemen und den sparsamen Motoren.
Nach zehn Modellgenerationen nähert sich die E- endgültig der S-Klasse an. In den gehobenen Versionen ist das klassische Armaturenbrett zwei frei konfigurierbaren, bis zu 31 Zentimeter großen Bildschirmen gewichen. Auf denen läuft hoch aufgelöstes High-Tech-Kino in Form von virtuellen Instrumenten und Navi-Karten mit Internet-Daten. Die Tasten auf dem Lenkrad reagieren auf horizontale Wischbewegungen eines Fingers und das Head-up Display spielt alle wichtigen Fahrinfos ins Blickfeld des Fahrers. Radar- und Ultraschallsensoren vermessen die Straße bis zu 300 Meter vor sowie den Bereich seitlich und hinter dem Auto, Kameras liefern gestochen scharfe Bilder ins Cockpit. Das Auto bremst im Notfall automatisch, kommuniziert mit seiner Umwelt, lässt sich per App ferngesteuert in die Garage zirkeln. Auf Wunsch hält es sich an Tempolimits und lenkt auf der Autobahn selbst. Wenn’s sein muss, wechselt die neue E-Klasse sogar die Spur und überholt, ohne dass der Fahrer mehr tun muss als zu blinken. Die erste Hürde auf dem Weg zum autonomen Fahren scheint also genommen. Prima, dann können wir uns also entspannt zurücklehnen. Können wir? Und vor allem: wollen wir?
Ist dieses Auto zu intelligent für unsere Zeit?
Die Realität auf unseren Straßen sieht anders aus. Auf unserer Testfahrt in Portugal bremst unser E 300 an einer Mautstelle tatsächlich zuverlässig auf die erlaubten 40 km/h. Doch weil das Tempolimit erst 300 Meter später aufgehoben wird, treiben uns überholende und wild gestikulierende Autofahrer den Schweiß auf die Stirn. Bei der nächsten Zahlstation legt das Auto grundlos eine Vollbremsung hin. Wenig später verabschiedet sich der Lenkassistent in einer leichten Autobahnkurve und wir nehmen die gestrichelte Linie unter die Räder. Und warum wir beim Spurwechsel nicht selbst kurz am Lenkrad drehen sollen, erschließt sich uns (noch) nicht. Zumal uns die Technik nach ein paar Sekunden ermahnt, doch bitte das Steuer wieder zu übernehmen.
Ist dieses Auto womöglich zu weit für unsere Zeit? Oder sind wir und unser heutiges Umfeld einfach noch nicht bereit für diese schöne neue Fahrzeug-Welt? Wahrscheinlich beides. Andererseits sind die vielen Hilfssysteme der E-Klasse sinnvoll und hilfreich. Sie können Unfälle verhindern oder zumindest deren Folgen mindern. Etwa, wenn der Fahrer ungebremst auf ein Stauende zurast und die E-Klasse den Notanker wirft. Oder wenn sie stoppt, weil ein ohnmächtiger Fahrer das Steuer loslässt und auf Warntöne nicht reagiert. Oder wenn plötzlich ein Kind auf die Straße rennt und die Lenkung dem Fahrer hilft auszuweichen.
Preise auf Niveau des Vorgängers
Nebenbei dürfte die E-Klasse eine der stilvollsten Business-Limousine auf dem Markt sein. Die Auswahl der Zierleisten reicht vom tiefschwarzen Hochglanz-Lack über offenporige Hölzer bis hin zum Dekors im Yacht-Look. Der Innenraum lässt sich in 64 Farbtönen ausleuchten und eine High-End-Anlage von Burmester beschallt die Kabine im 3D-Sound. Das alles gibt’s natürlich nicht in den Basismodellen. Die starten bei 38.070 Euro (alle Preise netto) für den E 200 beziehungsweise 39.600 Euro für den E 220 d und kosten damit minimal mehr als die vergleichbaren Modelle des Vorgängers.
Mit dem Modellwechsel geht auch eine neue Motorengeneration an den Start, darunter ein Vierzylinder-Diesel mit zwei Litern Hubraum. Dessen Entwicklung hat sich Daimler 2,6 Milliarden Euro kosten lassen. Heraus kam ein kompaktes Voll-Aluminium-Aggregat, das die gesamte SCR-Abgasreinigungstechnik im Motor integriert. Das spart Platz und Gewicht. Außerdem ist der Motor so fit für den Einbau in andere Modelle, da er die Abgastechnik gleich mitbringt. Im 220d leistet er 194 PS, 24 mehr als im Vorgänger. Zu Beginn wird er mit der Neungang-Automatik ausgeliefert und verbraucht nur 3,9 Liter (102 g CO2), gut 20 Prozent weniger als der bisherige E 220 Bluetec mit Siebenstufen-Automatik. Im Sommer folgen der 200 d mit 150 PS, die Handschalter sowie der 258 PS starke 350 d mit sechs Zylindern.
Bei den Benzinern reicht die Palette der Vierzylinder von 183 bis 245 PS. Dazu kommt im E 300 ein Sechszylinder mit 333 PS sowie mit dem 300 e ein 286 PS starker Plug-in Hybride, der 30 Kilometer weit elektrisch fahren soll. Allradantrieb und AMG-Versionen stehen ebenso auf der Agenda wie das T-Modell, das im Herbst 2016 bei den Händlern stehen soll.
Der Vierzylinder läuft extrem leise
Erster Eindruck des E 220 d: ein fast unhörbarer Flüsterdiesel mit enormer Antrittsstärke, genügend Potenzial für alle Überholvorgänge und kaum spürbaren Schaltvorgängen. Speziell mit der Luftfederung Airmatic entsteht ein fast schon sänftenartiges Schwebe-gefühl, doch auch die Standard-Federung bügelt Schlaglöcher und Straßenschäden glatt. Hier kommt die E- der S-Klasse schon sehr nahe.
Gleiches gilt für die zahlreichen Business-Anwendungen. Schließlich wird die E-Klasse vorwiegend als Geschäftswagen genutzt. Ihr Fahrer kann sich über Satelliten, Internet und Mobilfunktechnik mit dem Fahrzeug verbinden. Er kann Ziele oder Routen vom heimischen PC oder über eine App ins Navi übertragen, die Standheizung vom warmen Wohnzimmer aus einschalten oder einfach nur das Auto verriegeln. Auch ein interner Hotspot lässt sich einrichten, sofern der Fahrer einen entsprechenden Datenvertrag abschließt.
Mit Hilfe der in Android-Smartphones der neuesten Generation eingebauten Nahbereichs-Sender lässt sich das Handy in der Mittelkonsole kabellos laden. Der NFC-Chip kann aber auch den Fahrzeugschlüssel ersetzen. Dann hält der Fahrer einfach sein Handy ans Schloss und schon wird der Wagen entriegelt. Ein Telefon speichert die Zugangsdaten von bis zu acht Autos ab. So könnte beispielsweise ein autorisierter Parkplatzwächter die Fahrzeuge jederzeit rangieren, ohne die Schlüssel horten zu müssen.
Keine perfekte Smartphone-Integration
Ganz perfekt läuft die Smartphone-Integration allerdings nicht. Während Fahrer eines VW oder Audi zwei Telefone parallel per Bluetooth anschließen und so privates und geschäftliches Handy gleichzeitig nutzen können, muss sich der E-Klasse-Pilot für ein Telefon entscheiden. Und wenn die Bord-Navi läuft, kann er nicht gleichzeitig Apple Car Play nutzen. Besonders ärgerlich für Musikliebhaber: Streaming Dienste und Online- Radio können sie nur per Bluetooth übers Handy abrufen. In der Praxis bedeutet dies: anhalten und auf dem Smartphone herumtippen. Und dass weder Android Auto noch Apple Car Play mit dem Basis-Radio funktionieren, würde man bei der "intelligentesten Limousine der Business-Klasse" ebenfalls nicht vermuten.
So bleibt als Fazit die Erkenntnis, dass dieses Auto mehr kann als wir benötigen. Bis wir uns zeitungslesend quer durch Europa chauffieren lassen, werden noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte vergehen. Solange nehmen wir das Steuer selbst in die Hand, und umso lieber in einem so komfortablen Auto wie der E-Klasse.