Weibliche Crashtest-Dummys Mercedes nimmt Stellung

Hanna Paul 2024 Foto: Mercedes

Tragen Frauen ein größeres Verletzungsrisiko, weil bei Crashtests überwiegend "männliche" Dummys eingesetzt werden? Mercedes geht nun in die Offensive und zeigt die Sicht des Herstellers.

Die Diskussion um das Verletzungsrisiko von Frauen, aufgrund fehlender weiblicher Dummys bei Crashtests ebbt nicht ab. Demnach tragen Frauen bei Unfällen ein höheres Risiko. Diesen Fakt bestätigt unter anderem der Automobilclub ACE. Frauen erleiden zum Beispiel verstärkt Verletzungen an Armen und Beinen oder ein Schleudertrauma bei einem Heckaufprall. Einer der Gründe für das höhere Risiko, könnte darin liegen, dass Hersteller in Crashtests vorwiegend männliche Dummys einsetzen. Mercedes hält nun dagegen und sagt: "Moderne Dummys bilden Verletzungsrisiken von Fahrzeuginsassen ab – unabhängig von ihrem Geschlecht".

Mercedes macht eigenen Faktencheck

Dennoch bleiben viele Fragen offen. Hanna Paul, Leiterin Mercedes-Benz Dummy-Testing, unterzieht die häufigsten Vorwürfe einem Faktencheck.

Frauen sind im Auto nicht so gut geschützt wie Männer

Hanna Paul: Nein, das stimmt nicht. Zunächst zwei generelle Erkenntnisse aus den Unfalldatenbanken: Bei schweren oder tödlichen Verletzungen bestehen keine erkennbaren relevanten Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Und bei leichten Verletzungen gibt es im Einzelfall gewisse Unterschiede. Je nach Körperregion sind mal die Frauen (Beine/Füße und Schleudertrauma beim Heckaufprall) und mal die Männer (Kopf, Brust) stärker betroffen. Darüber hinaus haben Analysen unserer unternehmenseigenen Unfallforschung ergeben, dass bei Mercedes-Benz Fahrzeugen keine Auffälligkeiten in Richtung Frauen oder Männer bestehen. Das zeigt, dass die Auslegung der Mercedes-Benz Fahrzeuge im Realunfall funktioniert. Dies untermauert unsere Ansprüche im Sinne der "Real-Life Safety"-Philosophie.

Mythos und Wahrheit rund um den Einsatz weiblicher Crashtest-Dummys bei Mercedes-Benz

Female crash test dummies at Mercedes-Benz – Fact-checking the myths Foto: Mercedes-Benz AG – Communicati

Es gibt Statistiken, die zeigen, dass Frauen schlechter geschützt sind

Hanna Paul: Hier müssen wir genauer hingucken, denn die Unfallzahlen, die in diesen Statistiken genannt werden, stammen oft noch aus den 1980er Jahren. Inzwischen hat sich bei der passiven Fahrzeugsicherheit viel getan. Die Fahrgastzellen auch kleiner Fahrzeuge sind viel stabiler geworden. Und moderne Rückhaltesysteme haben in allen Fahrzeugklassen Einzug gehalten. Der Gurtkraftbegrenzer, der den Druck auf den Brustkorb limitiert, passt sich beispielsweise mit einem definierten Kraftverlauf den Erfordernissen der Insassinnen und Insassen an. Ein anderer Aspekt aus den oft herangezogenen Studien gilt indes noch heute: Frauen fahren – weltweit statistisch gesehen – oft ältere, kleinere Autos. Das bestätigt unter anderem eine Untersuchung der amerikanischen Versicherungsorganisation Insurance Institute for Highway Safety (IIHS). Allerdings hat sich, wie gesagt, das Sicherheitsniveau in allen Fahrzeugsegmenten, also auch bei Kleinwagen, deutlich verbessert. Die amerikanische Verkehrssicherheitsbehörde National Highway Traffic Safety Administration (NHTSA) stellte daher fest: Die Unterschiede bei den Todesfallraten zwischen Männern und Frauen gingen ab dem Modelljahr 2000 deutlich zurück.

In Crashtests werden vorwiegend männliche Dummys eingesetzt

Hanna Paul: Nicht bei Mercedes-Benz. Wir verwenden seit über 20 Jahren einen weiblichen Frontalaufprall-Dummy und einen weiblichen Seitenaufprall-Dummy. Dummys sind aber keine menschlichen Puppen. Sie sind Messinstrumente, die physikalische Kräfte und Wege messen. Gewicht und Größe der Dummy-Geschlechter werden von realen menschlichen Daten abgeleitet. Dabei ist der weibliche Dummy, abgestimmt auf die weibliche Anatomie, skaliert. Doch – und das ist entscheidend – die Kräfte, die bei Crashtests auf die Dummys wirken, werden in Verletzungsrisiken umgerechnet. Die Kalkulation dieser Risiken basiert auf den Verletzungsdaten von Männern und Frauen. Die gängigen Grenzwerte bei den weiblichen Dummys sind für dasselbe Verletzungsrisiko niedriger als bei den männlichen. Daher bilden die Dummys das Verletzungsrisiko von Männern und Frauen nach ihren jeweiligen anatomischen Gegebenheiten sehr gut ab. Das bedeutet: Größe und Gewicht der von Mercedes-Benz eingesetzten Dummy-Typen sind geschlechtsspezifisch. Aktuell forscht die NHTSA daran, inwiefern Verletzungsrisiken vom Geschlecht abhängen. Die ersten Ergebnisse bestätigen, dass das Geschlecht nicht die wichtigste Einflussgröße ist.

Crashtest-Dummys sind nicht vielfältig genug

Hanna Paul: In den letzten Jahren hat die Zahl der Dummy-Typen stark zugenommen – auch wegen der vielen unterschiedlichen Kollisionsarten, die geprüft werden. Insgesamt besitzt Mercedes-Benz über 120 Dummys. Es gibt sie in verschiedenen Größen- bzw. Gewichtsstufen – vom 3,5 Kilogramm schweren Säugling über Kinder und Jugendliche verschiedener Altersstufen sowie die Fünf-Prozent-Frau bis hin zu schweren Dummys. Unterschieden wird auch nach Typen für Frontal-, Heck- oder Seitenaufprall. Welche Dummys im Crashtest zu verwenden sind, ist in den Versuchsspezifikationen von Gesetzen, Ratings und spezifischen Mercedes-Benz Lastfällen festgelegt. Für eine weltweite Vergleichbarkeit sind alle Details zu den Dummys geregelt. Sogar die Art der Kleidung wird vorgeschrieben. Bei der Dummy-Technologie findet gerade ein Generationswechsel statt. Der neue Thor-Dummy ist menschenähnlicher und bietet mehr Messmöglichkeiten. Gemäß unseren internen Untersuchungen würde eine weitere Ausweitung der Dummy-Arten keine signifikante Verbesserung in Bezug auf das Thema Sicherheit herbeiführen.

Schwangere sind schlechter geschützt

Hanna Paul: Ein Systemvergleich in einer aktuellen Studie des ADAC zeigt, dass der normale Sicherheitsgurt sowohl die werdende Mutter als auch das ungeborene Kind bei einem Unfall gut schützt. Schwangere sind laut ADAC-Unfallforschung beim Autofahren keinem höheren Risiko ausgesetzt als andere Autofahrerinnen. Der normale Dreipunktgurt kann, sofern korrekt genutzt, die werdende Mutter und das ungeborene Kind bei einem Unfall gut schützen.

Simulationen machen physische Crashtests bald überflüssig

Hanna Paul: Das sehen wir nicht. Zwar kann die Berechnung der Kinematik und des Verformungsverhaltens die Anzahl der Versuche deutlich reduzieren und die Entwicklung beschleunigen. Am Fahrzeugcrash führt aus mehreren Gründen aber kein Weg vorbei: Crashtests sind nötig, um die Simulationen, die mit vielen Annahmen durchgeführt werden, zu bestätigen. Außerdem sind sie gesetzlich oder von Ratings vorgegeben. Die Insassensimulation berechnet, wie sich ein Dummy im Fahrzeug verhält. Darüber hinaus arbeitet Mercedes-Benz zusätzlich an sogenannten Mensch-Modellen (Human Body Model, HBM). Sie sollen die Anatomie des Körpers detaillierter abbilden – Knochen, Muskeln und Organe. So lässt sich im Gegensatz zum Dummy nicht nur eine Wahrscheinlichkeit für eine Verletzungsschwere, sondern die tatsächlich zu erwartende Verletzungsart in der jeweiligen Körperregion bewerten.

Gut zu wissen

Bereits seit 20 Jahren ist laut Mercedes, die sogenannte „Fünf-Prozent-Frau“ Fahrerin, Beifahrerin oder Fondinsassin bei Frontal-Crashtests von Mercedes-Benz – und gleichberechtigte Partnerin des klassischen männlichen Dummys Hybrid III 50. Damit führte das Unternehmen den weiblichen sogenannten Dummy Hybrid III 5 ein, bevor er offiziell vom Gesetzgeber gefordert wurde. Er hat die Anthropometrie einer Frau mit weiblichen Brüsten und Beckenknochen. Nur fünf Prozent der amerikanischen Frauen sind laut der zugrunde liegenden Statistik kleiner oder leichter. Heute finden sich Testvorschriften mit der "Fünf-Prozent-Frau" auch in Ratings von Verbraucherschutzverbänden und verschiedenen Gesetzen weltweit wieder. Ebenfalls seit zwei Jahrzehnten ist der weibliche Dummy SID-IIs bei Mercedes-Benz Crashtests im Einsatz. Er hat dieselbe Anatomie wie der Hybrid III 5 und ist speziell für Seitenaufprallversuche entwickelt. Anders als in den USA ist er in Europa bislang jedoch nicht gesetzlich vorgeschrieben.

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120 Dummys in 21 Varianten absolvieren bis zu 900 Crashtests im Jahr

Seit mehr als 50 Jahren untersucht die unternehmenseigene Unfallforschung Verkehrsunfälle, an denen Mercedes-Benz Fahrzeuge beteiligt sind. Ziel ist es, zu verstehen, wie Unfälle entstehen und durch welche verbesserten Schutzsysteme sie verhindert werden könnten. Hinzu kommen bis zu 900 Crashtests und 1.700 Schlittenversuche pro Jahr im Mercedes-Benz Technologiezentrum für Fahrzeugsicherheit in Sindelfingen. Dafür stehen 120 Dummys in 21 Varianten bereit – vom Säugling über die Fünf-Prozent-Frau und den 50-Prozent-Mann bis hin zum großgewachsenen, schweren Mann. Die Ergebnisse aus den Crashtests und der Unfallforschung fließen in die Entwicklung neuer Sicherheitstechnologien und die Verbesserung bestehender Systeme ein.